Der Marathon-Killer: Thriller
seine Geschäftsvisitenkarte gegeben hatte, schnarchte und seine Frau ebenfalls. Nur das kleine Kind, das neben ihr lag, starrte ihn mit großen braunen Augen an. Marchant lächelte und legte einen Finger an die Lippen. »Pst«, sagte er und streckte die Beine zur gegenüberliegenden Liege aus, auf der die Familie aus Kerala einen Teil ihres Gepäcks untergebracht
hatte. Dann hievte er sich hinauf in die schmale Koje. Kirsty kicherte und schob sich dicht an die Kante, um zwischen sich und der Wand Platz für Marchant zu machen.
»Wirklich winzig, diese Betten«, flüsterte Marchant und spürte die Wärme ihres Körpers, als er die Wolldecke über sich zog. Deren Kratzen erinnerte ihn an die Schule.
»Er kommt«, sagte Kirsty und zog ihren Rucksack vom Fußende nach oben, um einen kleinen Sichtschutz zu haben. Marchant rührte sich nicht und lauschte auf den Kontrolleur. Er hörte, wie sich die Familie unten bewegte, und Kirsty streckte die Hand aus und weckte Holly.
Nachdem der Kontrolleur gegangen war, blieb Marchant zunächst, wo er war, und ließ sich von der rhythmischen Bewegung des Waggons einlullen. Zuletzt war er in seinem Reisejahr mit einem indischen Zug gefahren auf der Strecke nach Kalkutta, die früher als »Frontier Mail« bekannt gewesen war.
»David?«, fragte Kirsty leise. »Er ist weg.« Marchant richtete sich auf und holte Luft. Sie lagen beide da und schauten sich die metallisch blaue Einrichtung aus den Fünfzigern an, mit Nieten, Messingschaltern und Bakelitgriffen. Der Stil erinnerte Marchant an das Interieur eines alten Schiffes.
Sie hatten sich schon über den Vorfall am Bahnhof in Delhi unterhalten. Beide Frauen hatten sich bei ihm für die galante Rettung bedankt und gefragt, ob seine Geschichte denn auch ein Körnchen Wahrheit enthielte. Marchant entschied sich, bei der Tarnung zu bleiben, die zunächst einmal harmlos war, und erzählte ihnen, dass er zwei Tage als Komparse am Roten Fort gearbeitet habe und dass Shah
Rukh in Wirklichkeit viel kleiner sei als in den Filmen. Er musste schließlich als Lügner in Übung bleiben.
Holly hatte gespürt, wie gut sich Marchant und Kirsty verstanden, und sich schmollend in ihre Koje verzogen, während die beiden auf den offenen Türstufen des Zuges saßen und die Vororte von Delhi an sich vorbeiziehen ließen. Ihr Gespräch verlief ungezwungen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Niemand stellte Fragen darüber, wie der andere lebte und seinen Unterhalt verdiente.
Er erfuhr wenig über Kirsty: Sie wollte Ashtanga am Strand von Goa lernen, und sie hatte den geschmeidigen Körper einer Yogaanhängerin. Kirsty wusste über ihn lediglich, dass er David Marlowe hieß, aus Irland stammte und dass man ihm in seiner Pension in Pahaganj den Rucksack gestohlen hatte. Mit anderen Worten: Sie waren Fremde - und zwar mehr, als Kirsty je ahnen würde.
Dennoch spürte Marchant etwas bei ihrer sorglosen Begegnung, als er im Nachtzug nach Goa mit ihr in der engen Koje lag und dem lang gezogenen Horn lauschte, das irgendwo weit vor ihnen tutete; und das machte es gewissermaßen unausweichlich, dass sie ihr Bein über seins schob. Er wollte gerade das Gleiche tun, als das Kind aus Kerala hustete. Marchant lächelte, weil Kirsty das Bein zurückzog. Stattdessen lagen sie dort zusammen, und ihre Welten, die sich kurz berührt hatten, drifteten wieder auseinander, während sich der Mangala Express durch die Dunkelheit auf das Arabische Meer zubewegte.
34
Paul Myers hatte sich den ganzen Abend im Morpeth Arms volllaufen lassen. Er betrachtete die Lichter des MI6-Gebäudes auf der anderen Seite der Themse, die hell in die Nacht strahlten, und er wusste, was er jetzt tun würde, konnte leicht das Ende seiner Karriere beim GCHQ bedeuten. Außerdem verriet er damit Leila, einen der wenigen Menschen, die er als Freund bezeichnen durfte. Aber sie hatte ihn ebenfalls hintergangen, und er begriff nun, dass er kaum eine andere Wahl hatte. Nachdem er sein fünftes Pint London Pride geleert hatte, stand er auf, trat hinaus und überquerte die Millbank zur Promenade am Fluss.
Er schaute auf das dunkle Wasser, das still unter ihm dahinfloss, und wählte die Nummer von Marcus Fieldings Handy. Nur wenige kannten diese Nummer, und noch weniger Menschen war erlaubt, ihn auf seinem Handy anrufen. Aber wenn man beim GCHQ arbeitete und über die Sicherheitsfreigabe eines ranghohen Geheimdienstanalysten verfügte, gab es immer einen Weg. Myers sah hinauf zum Büro des
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