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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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Gastgeber. »Wie soll man dem Orchester befehlen, die ersten Walzertakte anzustimmen, wenn er nicht da ist?« »Wie soll man die Leuchtfontäne im Garten einweihen?« Und so ging das viele Jahre lang. Eines Tages begann jedoch der Abstieg. Jeder weiß, daß an jenem Abend feindliche Kräfte am Werke waren. Ich erinnere midi, daß ich der Herzogin von K. eine reizende Begebenheit erzählte, die mir wenige Tage zuvor zugestoßen war. Ich beendete meine Geschichte, und anstatt mich mit einem faszinierenden Lächeln zu belohnen, wie ich es bis dahin von ihr gewohnt war, runzelte die Herzogin die Stirn und ließ ihren Blick in einen anderen Winkel des Salons schweifen. Doch wenige Augenblicke später lachte die Treulose, als der Baron von J. – gewissermaßen ein Emporkömmling und halb so alt wie ich – irgendeine Plumpheit über einen Gegenstand von sich gab, der natürlich völlig belanglos war. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Heute noch, nach so vielen Jahren, glaube ich, daß dieser Vorfall den Beginn meines Niedergangs anzeigte. Ich fuhr fort, an vielen Gesellschaften teilzunehmen, indes begriff ich, daß mein guter Stern jedes Mal ein Stück weiter sank. Ich versuchte mir einzureden, daß all dies Hirngespinste von mir seien, doch schließlich faßte ich den Entschluß, diskret zu verschwinden. Da die Welt sich weigert, mir weiterhin die erste Rolle zuzuerkennen, so sagte ich mir, ziehe ich mich zurück. Und das tat ich dann auch. Ich vergrub mich in diesem Schloß. Ich begriff, daß die Zeichen der Zeit sich geändert hatten, und wußte mich damit abzufinden. Ich wollte mich meinen jugendlichen Rivalen nicht mehr länger zum Kampf stellen, ich wagte nicht, mich der Gefahr erneuter Niederlagen auszusetzen. In den ersten Tagen meines zurückgezogenen Daseins vertraute ich noch darauf, daß jemand – irgendein guter Freund, irgendeine geliebte Frau – käme, mich zu retten. Niemand tat es. Seelenruhig ließ man es geschehen, daß ich mich allmählich in ein Fossil verwandelte. Und so lebte ich weiter zwischen diesen vier Wänden, ohne mich je auch nur zwischen den Zinnen erspähen zu lassen, den Blick in sehnsuchtsvolle Landschaften gerichtet. Der menschliche Ruhm, Bautista, ist keine Haselnuß wert. Aber ich bewahre mir noch einige Erinnerungen, niemand vermag mich ihrer zu berauben. Obendrein habe ich reichen Ersatz. In vielen Nächten, während Sie schlafen, lehne ich mich aus irgendeinem Fenster, betrachte das Firmament und mache eine Reise durch die Sterne. Am Tage suche ich bei zugezogenen Fenstervorhängen Zuflucht bei meinen Insektenbüchern, aus denen ich so viele Dinge gelernt habe. Ihnen brauche ich es ja nicht zu sagen, Bautista, Sie wissen ganz genau, wieviele Stunden ich mit Lesen verbringe. Schütteln Sie nicht den Kopf. Die Insekten bilden gleichsam einen irdischen Sternenhimmel. Ein Bienenkorb schließt so viele Wunder in sich wie eine Galaxie. Die Bienen sind indes nicht die einzigen. Da gibt es zum Beispiel die Eintagsfliegen. Gehen Sie einmal am Abend, bei Sonnenuntergang, in den Garten und setzen Sie sich an den Teich. Die Eintagsfliegen fliegen zu Abertausenden auf. Lernen Sie die Lektion, die diese winzigkleinen Geschöpfe uns erteilen. Die Fülle ihres Lebens dauert nur wenige Stunden. Sie können sich nicht einmal den Luxus des Nachdenkens gestatten. Sie sind gezwungen, zu handeln. Sie haben keinen Mund oder nur einen rudimentären. Sie haben nicht einmal ein Verdauungssystem als solches. Sie brauchen nicht zu essen. In einem Augenblick werden sie die Energien aufzehren, die sie in den drei oder vier Jahren ihres Lebens als Larve im Wasser des Teiches gespeichert haben. Alles ist seit Millionen von Jahren wohlbedacht, Bautista. Der Abend dämmert, und die Eintagsfliegen fliegen empor. Sie bilden einen dichten Schwarm. Diejenigen, welche das Glück haben, ein Weibchen zu finden, trennen sich mit diesen von der Gruppe und paaren sich schweigend. Kein Wort zuviel, kein Seufzer. Und auch keine Vorwürfe. Keine Versprechen. Das Leben, das sie gerade erst begonnen haben, ist für sie schon zu Ende. Die Nacht bricht herein; das Weibchen, mit Eiern beladen, taucht hinab in das Wasser des Teiches und legt sie ab unter einen Stein. Sie wird nie wieder auftauchen. Ihre Gefährtinnen fallen ebenfalls, mit entfalteten Flügeln, zu Tausenden herab. Alles geht dem Ende zu. Doch das Wunder der Fortdauer der Gattung ist schon im Gange. Was halten Sie von dieser sublimen Lektion, Bautista? Glauben

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