Der Maskensammler - Roman
Schwester. Er hatte gesehen, wie sie nach einem heftigen, sich über ein Wochenende hinziehenden Streit mit wehendem Mantel endgültig das Haus verlassen hatte. Der Grund war: Sie wollte heiraten. Der Mann, den sie sich ausgesucht hatte, war für ihren Vater indiskutabel. Er war Tierschützer,ausgerechnet Tierschützer! Als er die Hatz von Hasen mit Jagdhunden als bestialisch verurteilte, war für Egon von Riederer das Maß voll. «Ich will nicht, dass dieser Vollidiot noch einmal mein Haus betritt!», schrie er. Worauf Nora ihre Koffer packte. Sie sollte ihren Vater erst Jahre später auf dem Totenbett wiedersehen.
Auf seiner Reise hatte Bernhard kein einziges Mal an sie gedacht. Aber jetzt, am Ort ihrer Kindheit und mit ihrem Brief in der Hand, kamen ungerufen die Erinnerungen. Er meinte, das Knarren der Stufen zu hören, wenn sie vor ihm die Treppe in den ersten Stock hinaufging, wo mit Blick nach Norden und unverständlich klein ihre Kinderzimmer lagen. In das von Nora konnte man nur durch Bernhards Zimmer gelangen. Das führte zu hässlichen Streitereien, wenn Bernhard schlafen, Nora aber in ihren vier Wänden Musik hören wollte oder sich weigerte, für den Weg am Bett des Bruders vorbei die Schuhe auszuziehen.
Dieses Bett war in seinen Phantasien nichts anderes als die Hochburg der Miflins, der Falkenmänner, die sich in ihren goldenen Rüstungen auf ihre Flügelrosse schwangen, um in den Abgründen des Treppenhauses Urlep, den steinernen Riesen, und in den Sümpfen des Nebenzimmers die weißbrüstigen Namas und ihre Brut zu besiegen.
Die Situation spitzte sich zu, als Nora während eines Jagdausflugs des Vaters etwas vorhatte, was fraglos verboten war: Sie hatte sich zum ersten Mal verliebt und wollte ihren Freund mit in ihr Zimmer nehmen. Mit einer Tafel Schokolade und süßen Worten versuchte sie, Bernhard das Versprechen abzukaufen, sie nicht zu verraten. Als der sich nicht bestechen ließ, schrie sie: «Das wirst du bereuen!», und drohte, ihm eines Nachts ein Ohr abzuschneiden.
Mit dem Lächeln eines Geistesabwesenden, mit dem er sich ein Leben lang seine Umgebung auf Abstand hielt, fing Bernhard an, vor Noras Tür seine elektrische Eisenbahn aufzubauen. Dann kam der Freund. Nora wollte ihn eilig in ihr Zimmer ziehen und die Türverriegeln, doch der Freund löste sich aus ihrem Griff, ging in die Hocke, nahm einen Stapel Schienen, dann eine Weiche, ließ sich den Steckmechanismus erklären und erinnerte sich erst wieder an sein Rendezvous, als die Anlage fertig war und der erste Güterzug über die Gleise rollte. Da aber fand er die Tür verschlossen, Nora hatte sich heulend in ihrem Zimmer verbarrikadiert.
Anlass zu Streit gab auch das gemeinsame Badezimmer. Nie – auch als kleine Kinder nicht – hatten Bernhard und Nora vergnügt zusammen in der Wanne geplanscht. Fünfzehn Minuten waren für Waschen und Zähneputzen vorgesehen, die Benutzung war streng geregelt, Überschreitungen führten zu Beschimpfungen und wurden dem Vater gemeldet. Bernhard grauste es vor den Haaren, die Nora im Becken hinterließ, und er fand es unappetitlich, dass sie sich mit ein und demselben Handtuch das Gesicht und den Körper, also auch den Hintern, abtrocknete. Sie weigerte sich, in dem Wasser zu baden, in dem er schon gesessen hatte, weil sie überzeugt war, dass er in «die Brühe» pinkelte. Einmal, als er wieder die ihm zustehende Zeit überschritten hatte, kam sie herein ohne anzuklopfen, zog den Bademantel aus und stellte sich unter die Dusche. Was Bernhard da sah, prägte nachhaltig sein Bild vom weiblichen Körper. Er sagte den weißbrüstigen Namas den totalen Krieg an.
Ermüdet vom Kampf gegen die Schwester, gestraft vom Vater mit Nichtbeachtung, war Bernhard hilflos der Sehnsucht nach einer Mutter ausgeliefert. Von ihr hatte er nie ein Foto gesehen, es gab keinen Gegenstand im Haus, der an sie erinnerte. Sie sei früh gestorben, war alles, was er erfuhr. Woran, wurde nicht gesagt. Für ihn lebte sie an einem geheimen Ort. Sie erschien ihm in vielerlei Gestalt: Mal sah er sie ganz in Weiß gekleidet im Vorüberfahren als überirdisches Wesen auf einem Balkon stehen, mal ging sie wenige Schritte vor ihm mit einem Sonnenschirm auf einer Seepromenade und bestieg, galant von einem Herrn gestützt, ein Boot, mal erkannte er unter einem blauen Kopftuch ihr rotwangiges Gesichtoben auf einem schwankenden Heuwagen. Immer aber war sie in seinen Träumen bei ihm. Um ihn zu trösten, strich sie dann über seine Stirn
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