Der Maskensammler - Roman
Ansonsten war das Zimmer leer. Es musste kürzlich reingeregnet haben, die Decke hatte sich gelblich verfärbt und der Boden darunter war gequollen. Als er darauftrat, brach unter seinen Füßen das Holz. Die Tür zum Zimmer seiner Schwester öffnete er nicht.
Auf halber Treppe, zentral gelegen, war ein fensterloser Raum,der in den Plänen als «Lager» eingezeichnet war. Er hatte doppelt dicke Wände und eine Eisentür, die so schwer war wie ein Konzertflügel. Dort lagerten aber keine Goldbarren oder wertvolle Gemälde, es war die Waffenkammer des verstorbenen Barons. Sie war gesichert durch ein Tresorschloss mit zwei Schlüsseln, die an verschiedenen Orten aufbewahrt wurden. Wo das war, hatte nur er selbst gewusst. In dieser Kammer, die nie ein anderer Mensch betreten hatte, hatte er auf eigens dafür angefertigten Gestellen unter Verschluss gehalten, was ihm von seinen Besitztümern am liebsten gewesen war.
Wenn Bernhard an der Waffenkammer vorbeikam, duckte er sich oder beschleunigte den Schritt, als ginge von dem Raum eine Gefahr aus. Die Schlüssel hätte er finden können, aber er warf keinen Blick in die kleinen Schubladen im Schreibtisch seines Vaters, in denen er sie vermutete. Er hätte nicht gewagt, die Kammer aufzuschließen, die zeitlebens ein verbotener Ort für ihn gewesen war.
Um sich abzulenken, zählte er die Bücher aus der Hinterlassenschaft seines Vaters und ordnete sie im Autorenalphabet. Er zählte die Steinplatten in der Eingangshalle und die Zündhölzer in der Schachtel mit der Aufschrift «Swan – 100 Matches – British and Best», von denen sein Vater behauptete, nur mit ihnen könne er seine Pfeife anzünden. Es waren neunundzwanzig beziehungsweise dreiundfünfzig, Zahlen, die auf den Tag genau seinem Alter entsprachen. Er rechnete nach: Er war neunundzwanzig Jahre und dreiundfünfzig Tage alt. Bernhard wunderte sich nicht.
***
Irgendwann zog Katrin einen Brief aus der Schürze, als sie ihm Speckpfannkuchen servierte. «Ich habe ihn ganz vergessen. Der war schon gestern oder vorgestern bei der Post.»
«Lieber Freund», las Bernhard, «ich habe der Versuchung nichtwiderstehen können, nach München zu fahren. Ich bin bis zur Universität gelaufen und habe nach den Hörsälen gesucht, in denen ich als Student gesessen habe. Keiner der Professoren, deren Vorlesungen ich gehört habe, ist noch habilitiert. Danach habe ich mich in Schwabing umgesehen: In einer Mansarde in der Elisabethstraße hatte sich meine Freundin eingemietet, am Nikolaiplatz wohnte Tante Hilde, ich hatte ein Zimmer in einem Innenhof der Kaulbachstraße bei der liebenswertesten Wirtin der Welt. Tempi passati. – Dass Du aus Java zurück bist, habe ich durch Umstände erfahren, die Zufall zu nennen nicht ganz korrekt wäre. Ich weiß, Diana ist keine Göttin nach Deinem Geschmack, aber gerne hätte ich in ihrem Schutz auf Dich gewartet, damit Du von mir vom Tod Deines Vaters erfährst. Ich war in seiner letzten Nacht bei Egon. Seine Haltung war stoisch. Er ist so diszipliniert gestorben, wie er gelebt hat. – Einen Besuch bei Dir muss ich aus naheliegenden Gründen aufschieben. Eines Tages stehe ich vor der Tür. Pass gut auf Dich auf, damit ich Dich dann bei guter Laune und guter Gesundheit vorfinde. Sei umarmt! Ulrich.»
Umarmt! Hatte er Candra umarmt? Nein, ein anderer hatte es getan. Ulrich hatte dem toten Vater die Augen zugedrückt, Nora ihn zu Grabe getragen. Und er? Was war mit ihm? Wo war er? Das Leben glitt wie auf einer Filmleinwand vorbei, die Bilder flackerten, der Ton war abgeschaltet. Er saß eingesperrt in einem Raum, dessen Wände sich in der Dunkelheit verloren. Sei umarmt! Ulrich war der Einzige, der ihm einen Ausweg hätte zeigen können.
Er hörte Musik. Es konnte nur eine Täuschung sein, er besaß kein Radio und kein Grammofon. Er hörte Töne, die für ihn keinen Zusammenhang ergaben, undeutlich drangen sie bis an sein Ohr. Er war ohne Musik aufgewachsen, sie war für ihn etwas Fremdes. Er hatte nie Lieder gesungen, nie ein Konzert besucht. Wäre Musik zu machen und abzuspielen bei Strafe verboten worden, er hätte es nicht bemerkt. Jetzt aber hörte er ein Durcheinander vonTönen in einem pochenden Rhythmus. Einen Fuß vor den anderen setzend, ging er ihm nach. Er stand im Hof und, angezogen von dem ihm unbekannten Hämmern und Schwingen, näherte er sich dem Nebenhaus. Das hatte er noch nie getan, auch als Kind nicht, so, als wäre da drüben feindliches Terrain. Er wunderte sich,
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