Der Maskensammler - Roman
abbogen, der zum Haus «Diana» führte, ließ Bernhard den Fahrer anhalten. «Fahren Sie voraus!» – Das allerletzte Stück seiner Reise wollte er zu Fuß zurücklegen. Er schritt durch das schmiedeeiserne Tor, dessen Flügel offenstanden, als würde er, der verlorene Sohn, zu Hause erwartet. Gerührt nickte er den Bäumen und Sträuchern zu – er kannte sie alle. Dann sah er das Haus, das mit jedem Schritt größer wurde, schon konnte er das Geweih des Zwölfenders unter dem Giebel erkennen. An der Gartenseite blühten, von Schmetterlingen umflattert, der Sommerflieder und eine üppige Hortensie, eine Kaskade von hellblauen Blütendolden leuchtete im Halbschatten.
Der Taxifahrer hatte die Koffer abgeladen und brummte etwas: Fürs Warten müsse er nochmals zehn Prozent zusätzlich berechnen, strich das Geld mit einem «Heil Hitler» ein und fuhr davon. Dann war Stille. Es war für Juni ungewöhnlich schwül, vor die Sonne schob sich ein Wolkengebirge, später am Tag würde es ein Gewitter geben.
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Eines Abends hatte der Kapitän die wenigen Passagiere, die sein Schiff zurück nach Europa bringen sollte, um ihre Aufmerksamkeitgebeten. Wenn er die Fahrt wie vorgesehen fortsetzen wolle, sagte er auf Holländisch, wäre er verpflichtet, den folgenden Funkspruch zu verlesen: «Am 10. Mai haben siegreiche Truppen der Deutschen Wehrmacht Belgien und die Niederlande besetzt, um einem heimtückischen Überfall auf das Deutsche Reich zuvorzukommen. Statt mit der deutschen Regierung zu kooperieren, haben Königin Wilhelmina und das Kabinett ihr Land im Stich gelassen und sind nach London, in die Hauptstadt des Feindes, geflohen. Um den Widerstand einzelner Teile des niederländischen Heeres zu brechen, haben deutsche Bomberverbände heldenhaft die Stadt Rotterdam angegriffen und dadurch die Freischärler zur Kapitulation gezwungen. Durch das konsequente Durchgreifen der deutschen Heeresleitung ist es gelungen, Ruhe und Ordnung in Belgien und in den Niederlanden wiederherzustellen.»
Erst hieß es, das Schiff würde nach Antwerpen umgeleitet, dann durfte es doch in Rotterdam vor Anker gehen. In dem Boot, das die Passagiere abholte, standen deutsche Soldaten mit schussbereiten Waffen. Noch an Bord musste sich Bernhard zur Überprüfung seiner Papiere in eine Reihe stellen, die Kontrolleure trugen Zivil und Hakenkreuzbinden an den Ärmeln, sie sprachen Holländisch. Der Hafen war von Bomben schwer getroffen, die Stadt lag in Trümmern. Bernhard musste einen Bus besteigen und fuhr ohne Zwischenhalt zum Bahnhof. Wieder deutsche Soldaten, wieder einige Beamte mit der Armbinde, ansonsten Menschenleere.
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Bernhard stand unschlüssig im Hof und knöpfte mit einer mechanischen Bewegung seine Jacke zu, dann wieder auf. Da spürte er, dass jemand ihn beobachtete. In der Eingangstür des Nebengebäudes stand eine Frau und hielt sich die Hand über die Augen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er Katrin. Er hatte sie früher nierecht wahrgenommen: ein großes Kind, ein Mädchen ohne besonderen Liebreiz, unauffällig. Sie sah verändert aus, trug ihr Haar länger und war geschminkt. Ihr Gesicht schien ihm dadurch gröber, die Nase trat stärker hervor, der Mund war in die Breite gezogen. «Da sind Sie ja», sagte sie. «Ihr Vater ist tot.» Ohne ein weiteres Wort nahm sie einen der Koffer und schleppte ihn ins Haus. Als wäre dies die einzig mögliche Reaktion auf die Todesnachricht, folgte er ihr mit dem zweiten Koffer.
Auf dem Esstisch lag im verschlossenen Kuvert ein Brief von Nora: «Gestern haben wir Vater zu Grabe getragen. Es war eine kleine Beerdigung, keine zehn Personen. Du hast nichts versäumt. Wenn du hingehen willst: Er liegt auf dem Friedhof von Birkenfeld. Von seinen ehemaligen Kollegen an der Universität kein Beileidstelegramm, nichts. – Ich wollte seinen einzigen Freund, den Dr. Holzer, benachrichtigen, konnte aber seine Adresse nicht ausfindig machen. Nach ihm hat Vater angeblich, als es mit ihm zu Ende ging, gefragt. Nach seinen Kindern nicht. – Wie ich dich kenne, wirst du den Rest deines Lebens im Haus ‹Diana› verbringen wollen. Meinetwegen. Ich erwarte dein Angebot für eine angemessene Miete. Schließlich ist mir die Hälfte des Hauses, beziehungsweise des ganzen Anwesens durch Erbschaft zugefallen. Im Übrigen schicke ich dir demnächst eine Liste der Hausratsgegenstände, die ich für mich beanspruche. – P. S.: Ich habe mich von Bernd getrennt.»
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Nora, seine zwei Jahre ältere
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