Der Matarese-Bund
Helsinki. Wir müssen ihn warnen.«
»Wovor?«
»Daß jeder, der in Leningrad herumstöbert und Informationen nach einer berühmten alten Sankt Petersburger Familie namens Voroschin sucht, vermutlich eine Kugel in den Kopf bekommen wird.« Bray ließ den Wagen an. »Es ist Wahnsinn«, sagte er. »Wir sind hinter den Erben her – oder die glauben das zumindest –, weil wir ihre Namen haben. Aber es gibt noch jemand anderen, und ich glaube nicht, daß irgendeiner der Leute, deren Namen wir haben, ohne ihn viel bedeutet.«
»Wer ist das?«
»Ein Hirtenjunge. Er ist derjenige, den wir wirklich finden müssen, und ich habe nicht die leiseste Idee, wie ich es anstellen soll.«
22
Taleniekov ging bis zur Mitte des Häuserblocks an der Itä Kaivopuisto von Helsinki und registrierte die Lichter der amerikanischen Botschaft unten an der Straße. Der Anblick des Gebäudes paßte; er hatte fast den ganzen Tag lang immer wieder an Beowulf Agate gedacht.
Genauso lange hatte er dazu gebraucht, Scofields Telegramm und seinen Inhalt zu verarbeiten. Die Worte selbst waren belanglos, der Bericht eines Verkäufers an den leitenden Angestellten einer Zentrale bezüglich der italienischen Einfuhren von finnischem Kristallgeschirr, aber die neue Information war verblüffend und kompliziert. Scofield hatte in sehr kurzer Zeit außergewöhnliche Fortschritte gemacht.
Er hatte die erste Verbindung gefunden; es war Scozzi – der erste Name auf der Gästeliste von Guillaume de Matarese – und der Mann war tot, getötet von denen, die hinter ihm standen und ihn lenkten. Deshalb hatte sich die Annahme, die der Amerikaner schon in Korsika geäußert hatte, daß die Mitglieder des Matarese-Bundes diesem nicht durch Geburt, sondern durch Auswahl angehörten, als richtig erwiesen. Die Matarese waren übernommen worden, eine Mischung von Abkömmlingen und Usurpatoren. Das paßte zu den letzten Worten Aleksej Krupskayas in Moskau.
Die Matarese hatten jahrelang geschlafen. Niemand konnte mit ihnen Kontakt aufnehmen. Dann kamen sie zurück. Aber sie waren nicht mehr dieselben. Morde… ohne daß es Klienten gab, ein sinnloses Schlachten ohne erkennbares Muster… Regierungen gelähmt.
Dies war in der Tat ein neuer Bund der Matarese, der um ein Vielfaches tödlicher und gefährlicher war als ein Kult von Fanatikern, der sich für bezahlten politischen Meuchelmord hergab.
Beowulf hatte in seinem Telegramm noch eine Warnung ausgesprochen. Die Matarese gingen jetzt davon aus, daß die Gästeliste gefunden worden war. Das, was er sich vorgenommen hatte, das Ausspähen der Familie Voroschin in Leningrad, war unendlich komplizierter geworden, als es das noch vor Tagen gewesen wäre.
Männer warteten in Leningrad darauf, daß jemand Fragen nach den Voroschins stellte. Aber nicht die Männer – oder der Mann – an den er sich wenden würde, dachte Taleniekov und stampfte mit den Füßen auf, weil ihm so kalt war. Er suchte nach dem Automobil und dem Mann, der ihn abholen und nach Osten, an der Küste entlang, vorbei an Hamina, zur sowjetischen Grenze bringen sollte.
Scofield war mit dem Mädchen nach Paris unterwegs und wollte weiter nach England, sobald er in Frankreich die nötigen Maßnahmen getroffen hatte. Die Frau aus Korsika hatte die Tests bestanden, denen Beowulf Agate sie unterzogen hatte; sie würde leben und ihre Verbindung sein. Aber Scofield arbeitete selten auf nur einer Ebene, das hatte Wassili schon begriffen; es gab einen Dritten, den Geschäftsführer des Tavastian-Hotels in Helsinki.
Sobald er in Leningrad eingetroffen war, sollte Taleniekov an diesen Geschäftsführer ein Telegramm mit allen Einzelheiten, die sich chiffrieren ließen, durchgeben. Der Mann würde seinerseits auf direkte Telefonanrufe aus Paris warten und die aus Leningrad erhaltenen Codenachrichten weitergeben. Es war dann der Frau überlassen, Scofield in England zu erreichen.
Wassili wußte, daß es zu den besonderen Talenten des KGB gehörte, den Telegrammverkehr zu überwachen. Die einzig sichere Methode, das auszuschließen, bestand darin, KGB-Einrichtungen zu benutzen. Irgendwie würde er die Möglichkeit finden, eben das zu tun.
Ein Wagen hielt am Randstein, die Scheinwerfer wurden kurz abgeblendet. Taleniekov überquerte die Straße; er nahm vorne neben dem Fahrer Platz. Seine Rückkehr nach Rußland hatte begonnen.
Die Stadt Vainikkala lag am Nordwestufer des Sees; auf der anderen Seite der Wasserfläche war die Sowjetunion. Die Südostufer
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