Der Medicus von Heidelberg
Krönung der Schöpfung, so etwas wie die Königszahl in der Mathematik, weißt du. Nehmen wir als Beispiel die Kreiszahl Pi … jaja, Luther, ich halte schon ein, aber die Parallele drängte sich einfach auf. Also: Zur Krönung der Schöpfung verhilft uns nur eines – die Sprache und ihre Kultivierung. Sie macht uns zu dem, was wir sind.«
Luther fuhr fort: »Einem Humanisten gelten die Werte und die Würde des Menschen als höchstes Gut. Die Sprache hebt ihn empor und befähigt ihn zum Philosophieren. Sie macht ihn zum Individuum, sie versetzt ihn in die Lage, den Irrweg mancher christlichen Dogmen zu erkennen.«
Eobanus nickte ernst. »Wir alle hier am Tisch sollten uns wie die Humanisten zur Menschlichkeit bekennen und danach streben.«
»Das sollten wir«, sagte ich. »Nun sind wir schon zu siebt. Was haltet ihr davon, wenn wir uns einen Namen geben? Ich schlage vor
Humanistae Hieranae.
«
»
Humanistae Hieranae,
›Die Humanisten der Hierana‹.«, Eobanus ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. »Nicht schlecht, eine schöne Alliteration.«
»Einverstanden, die Zeit der Bewährung für die
Humanistae Hieranae
wird kommen«, ergänzte Luther. »Die Zeit des Kampfes gegen Kleingeist, Hinterlist und Heuchelei. Die Zeit des Aufstandes gegen
superbia, avaritia, invida, ira, luxuria, gula
und
acedia.
«
»Was bedeutet das?«, fragte von Hutten.
»Dein Latein scheint verbesserungswürdig zu sein«, rügte Eobanus. »Luther sprach soeben von den sieben Todsünden: der Hoffart, dem Geiz, dem Neid, dem Zorn, der Wollust und der Trägheit. Keine davon steht einem Humanisten an.«
Von Hutten verzog das jungenhafte Gesicht. »Ich fürchte, mit dem Zorn und der Wollust hapert es bei mir.«
Luther lächelte flüchtig. »Wir sind alle nicht vollkommen, aber der Wille, ein guter Humanist zu sein – und damit auch ein Christ im besten Sinne –, ist ein erster Schritt.«
»Dann lasst ihn uns gemeinsam machen!«, rief von Hutten mit jugendlicher Begeisterung. »Einer stehe für den anderen ein. Trinken wir darauf!«
Und das taten wir.
Wenig später verabschiedete ich mich, während die anderen am Tisch noch weiter diskutierten. Ich war müde, und Schnapp musste noch einmal sein Geschäft verrichten. »Gute Nacht, ihr Humanisten«, wünschte ich.
»Gute Nacht, du Medicus
in spe.
«
Mit dem Ende des Wintersemesters erlosch Professor Huthennes Rektorat. Der angesehene Theologe sollte es in den folgenden Jahren noch zum Weihbischof und zu einem weiteren Rektorat an der Hierana bringen. An seine Stelle trat Ingolf Aperbacchus, ein verdienter Mediziner, der das ehrenvolle Amt schon einmal im Jahre 1497 innegehabt hatte. Aperbacchus hatte in den ersten Wochen seiner Amtszeit alle Hände voll zu tun, um sich in seine vielen neuen Aufgaben einzuarbeiten, so dass er sich kaum in der Lage sah, wie vorgesehen einen Teil der medizinischen Lektionen von Professor de Berka zu übernehmen. Zwar gab es nur fünfundzwanzig Medizinstudenten an der Hierana, von denen während des zurückliegenden Semesters nicht weniger als neun aufgegeben hatten, doch Anfang April waren weitere dreizehn hinzugekommen. De Berka tat sein Bestes, um seine »Herren Studiosi« dennoch zu guten Jüngern des Äskulap zu machen, wobei er sich vieler Schaubilder und des nimmermüden Rochus Säcklers bediente. Er ging mit uns anhand eines männlichen Skelettes, das den bezeichnenden Namen »Adam« trug, jeden einzelnen Knochen durch, begann oben beim Schädeldach, arbeitete sich gezielt nach unten vor und hörte erst bei den Zehenknochen auf. Er sprach von Stirnbein und Kiefer, Wirbeln und Rippen, Ellen, Speichen, Becken, Schien- und Fersenbeinen, redete von Knochen, Knöchelchen und Knorpeln, fragte, was wo sitze, wozu es nütze und auf welche Weise es mit dem Nachbarglied verbunden sei.
Anschließend widmete er sich den Brüchen, sprach von einfachen, komplizierten, offenen und Drehbrüchen und führte aus, dass deren Heilungsdauer von ihrer Beschaffenheit abhinge. Der Armbruch bei einem alten Menschen heile langsamer als bei einem jungen, im Winter schlechter als im Sommer, bei Nahrungsmangel oder falscher Ernährung nur ungenügend. Es gäbe Knochen, die von Natur aus härter seien, da die Belastungen, die sie auszuhalten hätten, größer wären. Der Aufbau jedoch sei immer gleich. Die äußere Hülle bestehe aus der Knochenhaut und aus Bein, das Innere aus Mark.
Bei der nächsten Lektion verkündete er, Adam, das Skelett, würde heute
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