Der Medicus von Heidelberg
Gebet.
Ich stand neben ihm und wusste nicht recht, ob ich ebenfalls beten oder ihn allein lassen sollte. Schließlich sagte ich: »Das Lied kannte ich noch gar nicht.«
Luther lächelte. »Wie solltest du auch. Ich habe es gerade eben erfunden.«
Wir wanderten weiter in gelöster Stimmung, den ganzen Tag lang, nur unterbrochen von kurzen Pausen, in denen wir von unserer Wegzehrung aßen. Am Abend krochen wir in einen Feldverschlag, der früher einmal Ziegen als Behausung gedient haben mochte. Es war darin nicht besonders bequem, und es roch auch nicht besonders gut, aber wir waren so müde, dass uns dennoch sofort die Augen zufielen.
Am Dienstag, wir hatten Sangerhausen schon weit hinter uns gelassen, war uns das Glück hold. Ein Bauer nahm uns auf seinem Heuwagen mit bis Reinsdorf. Anschließend wanderten wir bis tief in den Abend hinein und übernachteten in einem kleinen Waldstück.
Am Mittwochmorgen wachten wir vor Morgengrauen auf, verließen den Wald und machten uns wieder auf den Weg. Der Himmel war an diesem Tag bedeckt. Doch wir ließen uns die Laune nicht verderben. Bald lag Kölleda hinter uns. Gegen Mittag kam ein kräftiger Wind auf, der uns jedoch recht angenehm war, da wir gehörig geschwitzt hatten. »Ein Gewitter wäre mir durchaus willkommen«, sagte Luther vergnügt. »Möglichst ohne Blitz und Donner, aber mit erfrischender, reinigender Wirkung.«
Ich pflichtete ihm bei, und wir gingen weiter.
Am Nachmittag, kurz vor Stotternheim, sollte Luthers Wunsch in Erfüllung gehen. Das Gewitter hatte uns eingeholt und auf einem freien Stoppelfeld gestellt. Beharrlich war es uns die ganze Zeit gefolgt, war näher und näher gekommen, hatte in unserem Rücken gedroht und gegrollt und den Himmel immer mehr verdunkelt. Obwohl es noch heller Tag war, schien um uns herum Nacht zu werden. Der Wind setzte aus, das Gezwitscher der Vögel verstummte. Für einen Augenblick herrschte Grabesstille.
Dann krachte es ohrenbetäubend. Ein Donner wie ein Hammer riss uns von den Beinen. Schnapp heulte auf und lief mit eingeklemmtem Schwanz davon. Ich rappelte mich hoch und rief ihn zurück, doch er kam nicht.
»Heilige Anna!«, stieß Luther hervor. Seine Finger krallten sich in meinen Ärmel. Seine Augen waren weit aufgerissen. Kein Zweifel, er hatte Angst, Todesangst.
»Es ist nur ein Gewitter«, beruhigte ich ihn. Doch er hörte mich nicht. Ein zweiter Donner, noch lauter als der erste, hatte meine Worte übertönt. Regen setzte ein. Sintflutartiger Regen. Tropfen wie Schläge prasselten auf uns herab. Ich sah alles wie durch einen Schleier. Wind kam auf. Ein Blitz zuckte über das gesamte Firmament, heller als tausend Sonnen, tauchte alles in gleißendes Licht, zeigte Luthers angstverzerrte Züge. Ein dritter Donner. Blitze, Donner. Donner, Blitze. Luther schrie. Er taumelte. Riss die Arme wie zur Abwehr hoch. Bückte sich dann tief und streckte dem Inferno sein Gesäß entgegen, als könne er dadurch die Urgewalten bannen. Der gläubige, abergläubische Luther! Fast hätte ich gelacht, wenn mir nicht selbst so bang zumute gewesen wäre.
»Hilf, heilige Anna!«, schrie Luther aus Leibeskräften. »Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!«
Ich tastete mich zu ihm heran, richtete ihn auf und umfing ihn schützend mit meinen Armen, obwohl mir selbst die Knie wie Espenlaub zitterten. Eng aneinandergepresst, so standen wir da, zwei hilflose Menschlein inmitten der Katastrophe, hoffend auf Gott und seine Gnade.
Und wie durch ein Wunder ließ irgendwann der Regen nach, die Donner wurden leiser, die Blitze blasser. Das Gewitter war weitergezogen, und wir lebten noch. Schnapp kam herbeigelaufen und leckte mir die Hände, als wolle er dafür um Verzeihung bitten, dass er zuvor nicht gehorcht hatte. »Es ist gut, mein Großer, es ist ja gut.«
Luther atmete tief durch und sagte: »Danke.«
Ich konnte schon wieder lächeln. »Es scheint, als habe die heilige Anna dein Angebot angenommen, ein Mönch werden zu wollen. Nun sieh zu, wie du aus dieser Zwickmühle herauskommst.«
Luther blickte mich an. »Es gibt keine Zwickmühle. Es war ernst gemeint.«
»Du willst tatsächlich ein Mönch werden?«
»Das will ich.« Luthers Stimme klang fest.
Ich ersparte mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ihm sein Entschluss spätestens morgen leidtun würde, denn anderes war wichtiger. »Wir müssen unsere nasse Wäsche ausziehen, sonst ereilt uns doch noch der Tod«, sagte ich.
»Dann müssten wir nackt
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