Der Meister und Margarita
beschloß, die Filiale in der Wagan-kowski-Gasse aufzusuchen, und um sich ein wenig zu sammeln, legte er den Weg dorthin per pedes zurück. Die Filiale der Städtischen Kommission für Schauspiele war in einer alten Villa mit abblätterndem Putz hinter einem Vorhof untergebracht. Die Villa war berühmt für ihre Porphyrsäulen im Vestibül.
Aber nicht die Säulen beeindruckten an diesem Tage die Besucher der Filiale, sondern das, was sich zwischen ihnen abspielte. Mehrere Besucher standen stocksteif und betrachteten ein weinendes Fräulein, das an einem Verkaufstisch mit Theaterfachliteratur saß. Momenten bot das Fräulein keine Fachliteratur an und winkte auf teilnahmsvolle Fragen nur ab, und währenddessen hörte man von oben, von unten, von den Seiten und aus sämtlichen Abteilungen der Filiale das Schrillen von mindestens zwanzig heißlaufenden Telefonen.
Plötzlich zuckte das weinende Fräulein zusammen und schrie hysterisch: "Es geht schon wieder los!" Und auf einmal begann sie mit zitterndem Sopran zu singen:
"Herrlicher Baikal, du heiliges Meer..."
Auf der Treppe erschien ein Bote, drohte mit der Faust und sang zusammen mit dem Fräulein in klanglosem mattem Bariton:
"Auf einer Lachstonne will ich dich zwingen . . . "
Ferne Stimmen gesellten sich dazu, der Chor schwoll an, und endlich brauste das Lied durch alle Winkel der Filiale. Im nahen Zimmer 6, wo sich die Rechnungskontrolle befand, tat sich ein sehr tiefer, körniger, mächtiger Baß hervor. Den Chor begleitete das sich verstärkende Schrillen der Telefone.
"Scharfer Nordost treibt die Wellen daher..."
brüllte der Bote auf der Treppe.
Tränen strömten dem Fräulein übers Gesicht, sie versuchte, die Zähne zusammenzubeißen, aber ihr Mund öffnete sich von selbst, und sie sang eine Oktave höher als der Bote:
"Rettung, sie muß mir gelingen!"
Die schweigenden Besucher waren besonders davon beeindruckt, daß die verstreuten Chorsänger sehr harmonisch sangen, als stünde der Chor beisammen und ließe kein Auge vom unsichtbaren Dirigenten.
In der Wagankowski-Gasse blieben die Passanten am Hofgitter stehen, verwundert von der Heiterkeit in der Filiale. Als die erste Strophe zu Ende war, brach der Gesang mit einem Ruck ab, abermals wie auf ein Zeichen des Taktstocks. Der Bote stieß einen leisen Fluch aus und verschwand. In diesem Moment öffnete sich der Haupteingang, und es erschien ein Bürger im Sommermantel, unter dem ein weißer Kittel hervorschaute, gefolgt von einem Milizionär.
"Tun Sie etwas dagegen, Doktor, ich flehe Sie an!" schrie das Fräulein hysterisch.
Auf der Treppe erschien im Laufschritt der Sekretär der Filiale. Vor Scham und Verlegenheit brennend, stotterte er: "Sehen Sie, Doktor, wir haben hier eine Art Massenhypnose, darum müssen Sie ..." Er sprach nicht zu Ende, druckste und sang plötzlich im Tenor:
"Schilka und Nertschinsk, nicht schreckt ihr mich mehr..."
"Idiot!" konnte das Fräulein eben noch schreien, aber sie kam nicht mehr dazu, zu erklären, wen sie beschimpfte, sondern führte statt dessen eine gewaltsame Kadenz aus und sang ebenfalls von Schilka und Nertschinsk.
"Nehmen Sie sich zusammen! Hören Sie auf zu singen!" sagte der Arzt zum Sekretär.
Es war zu sehen, daß der Sekretär sonstwas dafür gegeben hätte, um aufzuhören, doch er konnte nicht, sondern brachte gemeinsam mit dem Chor den Passanten in der Gasse die Botschaft zu Gehör, daß er im Gehölz den gefräßigen Bestien sowie den Kugeln der Bergwacht entronnen sei.
Kaum war die Strophe zu Ende, da bekam als erste das Fräulein eine Portion Baldrian vom Arzt, der dann zum Sekretär und zu den übrigen lief, um auch sie damit zu tränken. "Entschuldigen Sie, junge Frau", sagte plötzlich Wassili Stepanowitsch zu dem Fräulein. "Ist ein schwarzer Kater bei Ihnen gewesen?"
"Wieso denn ein Kater?" schrie das Fräulein wütend. "Ein Esel sitzt bei uns in der Finanzabteilung, jawohl, ein Esel! Soll er's nur hören, ich werde alles erzählen." Und sie erzählte, was geschehen war.
Man erfuhr, daß der Leiter der städtischen Filiale, der (nach den Worten des Fräuleins) "die Unterhaltungsveranstaltungen leichteren Typs völlig heruntergewirtschaftet" hatte, an der Manie litt, alle möglichen Zirkel ins Leben zu rufen. "Damit will er sich bloß bei den Vorgesetzten einkratzen!" brüllte das Fräulein.
Im Laufe eines Jahres habe der Leiter einen Zirkel zum Studium Lermontows, einen Schach- und Damezirkel, einen Pingpong-zirkel und einen
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