Der Memory Code
kann dir nicht einmal bei der nächsten Etappe helfen.”
Der Abholservice, den sie von New Haven aus telefonisch angefordert hatten, stand schon an der Bordsteinkante bereit. Der Fahrer nahm ihr die Reisetasche ab, verstaute sie im Kofferraum und hielt Gabriella die Tür auf. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, so erschöpft war sie. Das Einzige, was sie aufrecht hielt, war die Wagentür.
“Rufst du mich morgen an?”, fragte sie Josh mit einem Anflug von Zittern in der Stimme. “Sobald du etwas weißt?”
“Passt mir gar nicht, dass du jetzt in ein leeres Haus kommst. Hättest du nur deinen Vater benachrichtigt und ihn gebeten, seine Tagung Tagung sein zu lassen und nach Hause zu fliegen!”
“Wozu? Damit er bei mir herumsitzt und sich mit mir zusammen Sorgen macht?” Sie zögerte noch mit dem Einsteigen, als warte sie auf irgendetwas.
Josh nahm ihre Hand. Die selbstbewusste Haltung, der kühne Glanz in ihren Augen, den er noch damals in Rom bei der ersten Begegnung an der Grabungsstätte wahrgenommen hatte – alles verflogen.
Wie konnte es sein, dass ihm ein Trugbild, das bloße Fragment einer Unbekannten, ebenso viel bedeutete wie diese Frau? Nicht nur möglichenfalls, sondern tatsächlich? Hier eine Person aus Fleisch und Blut, dort eine diffuse Vorstellung, eine schicksalhafte Fantasiegestalt? Er schalt sich einen Narren.
“Ich besuche dich, sobald ich kann.”
“Ach, ich komme schon zurecht. Du musste nicht extra …”
“Ich weiß, ich muss nicht. Aber solche Phrasen können wir uns sparen, Gabriella.”
Mit den Tränen kämpfend, nahm sie ihren letzten verborgenen Rest Kraft zusammen und straffte sich.
Josh war erleichtert. Es lag ihm viel daran, dass sie sich einigermaßen hielt, dass sie bis zum Wiedersehen für sich selber sorgen konnte. Denn als Nächstes musste er unbedingt Rachel aufsuchen und sich mit ihr auf eine Reise begeben – ohne Autos oder Flugzeuge zwar, aber dafür auf eine Fahrt, die möglicherweise in viel weitere Fernen führte.
* * *
Donnerstag, 10:05 Uhr
Josh stieg die Stufen der breiten Freitreppe zum Haupteingang des Metropolitan Museums hinauf. Rachel wartete dort bereits im Büro ihres Onkels auf ihn. Eine Zigarette zwischen den Fingern und tiefe Ringe unter den Augen, machte sie, als sie Josh ungeduldig begrüßte, einen angespannten Eindruck.
“Was ist los?”, fragte er, als er sie sah.
“Das wollte ich Ihnen am Telefon lieber nicht sagen”, antwortete sie und nippte an einer dampfenden Kaffeetasse. “Ich werde mit Sicherheit beschattet und …”
Er hörte gar nicht mehr hin, sondern fragte sich unwillkürlich, ob Rachels Schatten wohl auch ihn und Gabriella verfolgte hatte. Gab es etwa einen weiteren Zusammenhang zu den ganzen Vorgängen? Hatte er noch etwas übersehen?
“Nein”, beteuerte sie, als könne sie seine Gedanken lesen. “Ihnen kann eigentlich niemand gefolgt sein. Wie sollte man Sie auch von den Tausenden von Besuchern unterscheiden, die Tag für Tag ins Museum kommen?”
Woher wusste sie bloß, was in ihm vorging?
Das wusste sie doch schon immer! So wart ihr eben, ihr zwei!
Die Antwort kam von Percy, weit über die Jahre hinweg. Josh schüttelte den Kopf, als wolle er die Stimme loswerden.
“Was ist los?”, fragte Rachel.
“Ach, nichts.”
“Ich bin überzeugt, dass mein Onkel dahintersteckt, aber warum, das weiß ich nicht. In letzter Zeit ist er nahezu besessen von meinen Flashbacks. Statt sich Sorgen um mich zu machen, liegt er mir dauernd damit in den Ohren, dass ich mich hypnotisieren lassen soll. Er hat sogar jemanden aufgestöbert, an den ich mich unbedingt wenden soll … und das tue ich auch, falls Sie mir nicht helfen. Mir wäre es allerdings lieber, wenn Sie es tun würden. Ihnen vertraue ich. Das ist auch so eine verrückte Geschichte … dass ich Ihnen vertraue. Dabei kenne ich Sie doch kaum! Aber wenn Sie mir nicht helfen … Irgendwas muss ich doch unternehmen! Besonders jetzt!”
“Besonders jetzt? Ist denn noch etwas vorgefallen inzwischen?”
“Ja, aber etwas sehr Verwirrendes. Ich kann mir zwar keinen Reim darauf machen, doch es ist wichtig. Es ist jemand gestorben, Josh.”
“Wer?”
Sie hielt inne. Er wartete. Sie musterte ihn, den Blick ihrer dunkelblauen, feuchten Augen fest auf ihn geheftet.
“Ich selber, glaube ich. Ich bin gestorben.”
60. KAPITEL
R om, Italien – 1884
Nach dem Mord an Wallace Neely wurde für Esme alles anders.
Der unbeschwerte Liebhaber, der nachts mit ihr
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