Der Menschen Hoerigkeit
zusammengeschmolzen, bildete aber immer noch einen Gegenstand des Scherzes für den Vikar. Er sprach gerne von seiner ›reichen Frau‹ und machte ständig Anspielungen auf die ›verborgenen Schätze‹.
»Oh, bitte nimm es, Philip, du machst mich glücklich damit. Es tut mir so leid, dass ich nicht sparsamer gewesen bin.«
»Aber du wirst das Geld doch brauchen«, sagte Philip.
»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe es mir aufgehoben für den Fall, dass dein Onkel vor mir sterben sollte. Ich wollte ein bisschen eigenes Geld haben, an das ich jederzeit herankann. Aber ich glaube nicht, dass ich noch sehr lange leben werde.«
»Oh, sag das nicht. Du wirst ewig leben. Ich kann dich unmöglich entbehren.«
»Ach, ich bin nicht traurig.« Ihre Stimme wurde unsicher, und sie verbarg ihre Augen, aber gleich darauf trocknete sie sie und lächelte tapfer. »Früher betete ich immer, der liebe Gott möge mich nicht als Erste abberufen, weil ich nicht wollte, dass dein Onkel allein zurückbleibt, dass er diesen Kummer tragen muss. Aber jetzt weiß ich, dass es ihm nicht so viel ausmachen würde wie mir. Er lebt lieber als ich; ich war nie die Frau, die er gebraucht hätte, und wenn ich gehe, heiratet er vielleicht noch eine andere. Deshalb wünsche ich mir, als Erste zu sterben. Findest du das egoistisch von mir? Ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren.«
Philip küsste ihre magere, runzelige Wange. Er wusste nicht, warum er angesichts dieser grenzenlosen Liebe ein seltsames Gefühl von Scham empfand. Wie war es möglich, dass man so innig an diesem gleichgültigen, egoistischen, nur auf das eigene Wohlbefinden bedachten Mann hängen konnte? Er vermutete, dass ihr seine Gleichgültigkeit und Selbstsucht nicht entgingen, aber dass sie ihn trotzdem demütig liebte.
»Nimm das Geld, Philip«, sagte Mrs. Carey und streichelte sanft seine Hand. »Ich weiß, du könntest es ebenso gut entbehren. Aber lass mir die Freude, dir ein wenig helfen zu dürfen. Du weißt, ich habe niemals ein eigenes Kind gehabt, und ich habe dich geliebt wie einen Sohn. Als du ein kleiner Junge warst, habe ich mir – obwohl ich wusste, dass es böse war – beinahe gewünscht, du würdest krank, damit ich dich Tag und Nacht hätte pflegen können. Aber du bist nur ein einziges Mal krank gewesen, und damals warst du bereits in der Schule. Ich möchte dir so gern helfen. Es ist die einzige Gelegenheit, die ich je haben werde. Und vielleicht wirst du mich, wenn du ein großer Künstler bist, nicht vergessen, sondern dich daran erinnern, dass ich dir auf den Weg geholfen habe.«
»Du bist sehr gut zu mir«, sagte Philip. »Ich bin dir unendlich dankbar.«
Ein Lächeln verklärte ihre müden Augen, ein Lächeln reinen Glücks.
»Oh, ich bin so froh.«
40
Ein paar Tage später brachte Mrs. Carey Philip zum Bahnhof. Sie stand an der Waggontür und kämpfte mit den Tränen. Philip war nervös und ungeduldig. Er brannte darauf wegzukommen.
»Gib mir noch einen Kuss«, sagte sie.
Er lehnte sich zum Fenster hinaus und küsste sie. Der Zug setzte sich in Bewegung, und sie stand auf dem hölzernen Bahnsteig der kleinen Station und winkte mit dem Taschentuch, bis der letzte Wagen in der Ferne entschwunden war. Das Herz war ihr furchtbar schwer, und die paar hundert Schritte bis zum Pfarrhaus schienen ihr endlos. Es war ganz natürlich, dass er begierig darauf war wegzugehen, dachte sie, er war ein Junge, und die Zukunft gehörte ihm; aber sie – sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Sie betete stumm, Gott möge ihn beschützen, ihn vor Versuchungen bewahren und ihm eine glückliche Zukunft gewähren.
Aber Philip dachte in dem Moment, in dem er sich in seiner Coupé-Ecke zurechtgesetzt hatte, schon nicht mehr an sie. Er dachte an die Zukunft. Er hatte an Mrs. Otter geschrieben, die massière einer Zeichenschule, an die er durch Hayward empfohlen worden war, und trug eine Einladung zum Tee für den folgenden Tag in der Tasche. Als er in Paris ankam, ließ er sein Gepäck auf eine Droschke aufladen und fuhr langsam durch die belebten Straßen, über die Brücke und durch die schmalen Gässchen des Quartier Latin. Er hatte ein Zimmer im Hôtel des Deux Écoles in einer schäbigen Seitenstraße des Boulevard du Montparnasse gemietet; es lag in bequemer Nähe der Schule Armitrano, wo er arbeiten würde. Ein Hausdiener trug seinen Koffer fünf Treppen hinauf, und Philip wurde in ein winziges Zimmer geführt, in dem es
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