Der Menschen Hoerigkeit
dahinbrauste; die Dünen begeisterten ihn, ihre Färbung schien ihm lieblicher als alles, was er bisher gesehen hatte; und er war entzückt über die Kanäle und die langen Pappelreihen. Als er mit Mr. Goodworthy die Gare du Nord verließ und in einer wackligen Droschke über die gepflasterten Straßen dahinholperte, war ihm zumute, als atme er eine neue und dermaßen berauschende Luft, dass er sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, laut aufzujubeln. Am Hoteleingang wurden sie von dem Direktor empfangen, einem dicken, freundlichen Mann, der ein annehmbares Englisch sprach; Mr. Goodworthy war ein alter Bekannter, und der Direktor begrüßte ihn äußerst herzlich; nachher aßen sie in seinem Privatzimmer mit ihm und seiner Frau zu Abend, und Philip war es, als hätte er nie etwas so Köstliches gegessen wie das beefsteak aux pommes oder solchen Nektar getrunken wie den vin ordinaire, der ihnen vorgesetzt wurde.
Für Mr. Goodworthy, einen ehrbaren Familienvater mit ausgezeichneten Grundsätzen, war Frankreichs Hauptstadt ein fröhlich-obszönes Paradies. Er fragte den Direktor gleich am nächsten Morgen, was es an ›Gepfeffertem‹ zu sehen gäbe. Diese Parisreisen genoss er durch und durch; sie verhinderten, dass man einrostete, pflegte er zu sagen. Abends, wenn die Arbeit beendet war und man diniert hatte, nahm er Philip mit ins Moulin Rouge oder in die Folies Bergères. Er zwinkerte mit seinen kleinen Augen, und auf seinem Gesicht war ein verschmitztes, wollüstiges Lächeln, während er Ausschau nach Pikantem hielt. Er suchte all die Orte auf, die eigens für Fremde eingerichtet waren, und bemerkte später Philip gegenüber, dass es ein Land, das solche Schlupfwinkel duldete, zu nichts bringen konnte. Er stupste Philip, als bei einer Revue eine Frau mit fast gar nichts am Leib auf der Bühne erschien, und machte ihn auf die drallsten der Kurtisanen aufmerksam, die durch das Foyer stolzierten. Es war ein vulgäres Paris, das er Philip zeigte, aber Philips Augen waren von der Illusion geblendet. Früh am Morgen stürzte er aus dem Hotel und ging die Champs-Élysées entlang bis zur Place de la Concorde. Es war Juni, und Paris schimmerte in einem Silberhauch, so zart war die Luft. Philips Herz schlug den Menschen entgegen. Hier endlich gab es Romantik.
Sie blieben eine Woche und fuhren am Sonntag wieder ab. Und als Philip am Abend in seiner trübseligen Behausung in Barnes ankam, war sein Entschluss gefasst: Er wollte seine Arbeit in London aufgeben und nach Paris gehen, um Malerei zu studieren. Aber um nicht für leichtsinnig gehalten zu werden, beschloss er, sein Jahr im Büro abzuschließen. Sein Urlaub war auf die letzten vierzehn Tage des Augusts angesetzt, und er nahm sich vor, Mr. Carter vor seiner Abreise mitzuteilen, dass er nicht zurückzukehren gedenke. Aber wenn er sich auch zwingen konnte, jeden Tag im Büro zu erscheinen, war er nun nicht mehr imstande, auch nur das geringste Interesse für seine Arbeit aufzubringen. Seine Gedanken waren mit der Zukunft beschäftigt. Nach Mitte Juli gab es nicht mehr viel zu tun, und er blieb häufig der Arbeit fern, unter dem Vorwand, irgendeine Vorlesung für seine Prüfung besuchen zu müssen. Die Zeit, die er auf diese Weise gewann, verbrachte er in der National Gallery. Er las Bücher über Paris und Bücher über Malerei. Er versenkte sich tief in Ruskin. Er las viele der Malerbiographien Vasaris. Ihm gefiel, was von Correggio erzählt wurde, und im Geiste sah er sich selbst vor irgendeinem großen Meisterwerk stehen und ausrufen: Anch’ io son’ pittore. Seine Unsicherheit verließ ihn, und allmählich kam er zu der Überzeugung, dass er das Zeug zu einem großen Maler habe.
›Warum sollte ich es nicht versuchen?‹, sagte er zu sich selbst. ›Das Wesentliche im Leben ist, ein Risiko einzugehen.‹
Schließlich wurde es Mitte August. Mr. Carter war für einen Monat nach Schottland gefahren, und der geschäftsführende Angestellte hatte viel zu tun. Mr. Goodworthy war seit der Parisreise sehr freundlich zu Philip gewesen, und jetzt, da Philip wusste, dass er sehr bald frei sein würde, hielt er den komischen kleinen Mann für durchaus erträglich.
»Sie gehen morgen auf Urlaub, Carey?«, sagte er am Abend.
Den ganzen Tag über hatte sich Philip gesagt, dass er zum letzten Mal in dem verhassten Büro säße.
»Ja. Das ist das Ende meines Jahres.«
»Ich fürchte, Sie haben sich nicht sonderlich bewährt. Mr. Carter ist sehr
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