Der Menschen Hoerigkeit
besorgt gewesen wegen des Empfangs, der ihm bevorstand, denn er hatte viel über die derben Späße gelesen, welche die nouveaux in manchen Ateliers über sich ergehen lassen mussten; aber Mrs. Otter hatte ihn beruhigt.
»So etwas gibt es bei uns nicht«, hatte sie gesagt. »Über die Hälfte der Schüler sind Damen, und die sorgen schon für den guten Ton.«
Das Atelier war groß und kahl, mit grauen Wänden, an denen mit Reißnägeln ein paar besonders gelungene Arbeiten befestigt waren. Auf einem Stuhl saß ein Modell, mit einem losen Umhang über den Schultern, und ungefähr ein Dutzend Männer und Frauen standen darum herum, einige sprachen, andere arbeiteten noch an ihren Skizzen. Es war die erste Ruhepause des Modells.
»Suchen Sie sich für den Anfang nichts zu Schwieriges aus«, sagte Mrs. Otter. »Stellen Sie Ihre Staffelei hierher. Sie werden sehen, dass das die leichteste Pose ist.«
Philip schob eine Staffelei an die bezeichnete Stelle, und Mrs. Otter stellte ihm eine junge Person vor, die neben ihm saß.
»Mr. Carey – Miss Price. Mr. Carey hat noch nie gezeichnet. Sie werden vielleicht die Güte haben, ihm anfangs ein wenig behilflich zu sein, ja?« Dann wandte sie sich dem Modell zu: »La pose.«
Die Frau warf die Zeitung beiseite, die sie gelesen hatte, La Petite République, ließ ihren Umhang fallen und stieg missmutig auf das Podium. Sie stand da, fest auf beiden Beinen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»So eine dumme Pose«, sagte Miss Price. »Ich verstehe nicht, warum man gerade die ausgewählt hat.«
Als Philip eingetreten war, hatten die Leute im Atelier neugierig zu ihm hingesehen, und das Modell hatte ihn mit einem gleichgültigen Blick gestreift. Nun aber schwand das allgemeine Interesse an ihm. Philip starrte hilflos auf das Modell, vor sich seinen schönen, weißen Zeichenbogen. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Er hatte noch nie eine nackte Frau gesehen. Sie war nicht mehr jung, und ihre Brüste waren welk. Sie hatte farbloses helles Haar, das ihr unordentlich über die Stirn fiel, und ihr Gesicht war mit großen Sommersprossen übersät. Er schielte nach Miss Prices Zeichnung hinüber. Es sah aus, als käme sie nicht zurecht damit. Das Papier war ganz verschmiert vom ständigen Radieren, und die Gestalt schien Philip seltsam verzerrt.
›So gut müsste ich es eigentlich auch können‹, sagte er zu sich selbst.
Er fing beim Kopf an und wollte dann langsam hinuntergehen, aber, auf ihm unbegreifliche Weise, bereitete es ihm weit größere Schwierigkeiten, nach einem Modell zu zeichnen als nach der Phantasie. Er wusste nicht weiter und schaute abermals zu Miss Price hinüber. Sie arbeitete mit leidenschaftlichem Ernst. Ihre Stirn war gerunzelt vor Eifer, und ihre Augen hatten einen gehetzten Blick. Im Atelier war es sehr heiß, und auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Sie war ein Mädchen von sechsundzwanzig Jahren, mit dichtem mattblondem Haar; es war schön, aber ohne jegliche Sorgfalt frisiert, straff aus der Stirn gezogen und hinten zu einem eiligen Knoten zusammengesteckt. Sie hatte ein großes Gesicht mit breiten, flachen Zügen und kleinen Augen; ihre Haut war ungepflegt, mit einem eigentümlich ungesunden Ton, und ihre Wangen hatten keine Farbe. Sie sah ungewaschen aus, und man fragte sich unwillkürlich, ob sie vielleicht in ihren Kleidern schlafe. Sie war ernst und still. Bei der nächsten Pause trat sie zurück und betrachtete ihre Arbeit.
»Ich weiß nicht, warum es mir so schwer fällt«, sagte sie. »Aber es muss werden.« Sie wandte sich Philip zu. »Und wie kommen Sie vorwärts?«
»Gar nicht«, antwortete er mit einem kläglichen Lächeln.
Sie sah sich an, was er bisher gemacht hatte.
»So dürfen Sie es nicht anpacken. Zuerst müssen Sie Maß nehmen. Und dann müssen Sie Ihr Blatt einteilen.«
Sie zeigte ihm rasch, wie sie es meinte. Philip bewunderte ihren Ernst und fühlte sich zugleich abgestoßen von ihrem Mangel an Charme. Dankbar für die Ratschläge, die sie ihm gegeben hatte, machte er sich alsbald wieder an die Arbeit. Inzwischen waren neue Leute angekommen, hauptsächlich Männer, denn die Frauen begannen immer früher, und das Atelier wurde ziemlich voll. Gerade war ein junger Mann mit dünnem schwarzem Haar eingetroffen, einer riesigen Nase und einem Gesicht, das so lang war, dass man an ein Pferd denken musste. Er setzte sich neben Philip und nickte Miss Price zu.
»Sie kommen sehr spät«, sagte sie. »Sind
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