Der Menschen Hoerigkeit
lassen! Ich hatte gute Lust, wieder nach Hause zu gehen.«
»Aber Sie hatten doch gesagt, Sie würden im Wartesaal zweiter Klasse warten.«
»Das habe ich nicht gesagt. Wenn ich in der Ersten sitzen kann, werde ich mich doch nicht in die Zweite setzen.«
Obwohl Philip genau wusste, dass er sich nicht geirrt hatte, sagte er nichts mehr, und sie stiegen in eine Droschke.
»Wo werden wir essen?«, fragte sie.
»Ich dachte, vielleicht im Adelphi. Ist Ihnen das recht?«
»Mir ist es ganz gleich, wo wir essen.«
In ihrer Stimme lag ein unfreundlicher Ton. Sie war verstimmt, weil man sie hatte warten lassen, und beantwortete Philips Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen, einsilbig. Sie trug einen langen Mantel aus rauhem, dunklem Stoff und einen gehäkelten Schal um den Kopf. Sie gelangten zum Restaurant und ließen sich an einem Tisch nieder. Mildred blickte befriedigt um sich. Die roten Lampenschirme über den Kerzen, die auf den Tischen standen, die goldenen Dekorationen, die Spiegel verliehen dem Raum ein prunkvolles Aussehen.
»Hier war ich noch nie.« Sie blickte Philip lächelnd an. Sie hatte ihren Mantel abgelegt, und Philip sah, dass sie ein hellblaues Kleid mit rechteckigem Ausschnitt trug; ihr Haar war noch kunstvoller frisiert als sonst. Philip hatte Champagner bestellt, und als er kam, leuchteten ihre Augen.
»Sie lassen sich nicht lumpen«, sagte sie.
»Weil ich Schaumwein bestellt habe?«, fragte er ganz beiläufig, als würde er niemals etwas anderes trinken.
»Es hat mich wirklich überrascht, dass Sie mich ins Theater einladen.«
Das Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen; Mildred schien nicht viel zu sagen zu haben, und Philip hatte das peinigende Gefühl, dass er sie nicht unterhielt. Sie hörte unbeteiligt seinen Reden zu und ließ dabei ihre Augen über die anderen Tische schweifen, ohne den geringsten Versuch, ein Interesse an ihm zu heucheln. Er machte ein paar Scherze, aber sie nahm sie vollkommen ernst auf. Erst als er von ihren Kolleginnen zu sprechen begann, wurde sie etwas lebhafter; sie konnte die Leiterin nicht leiden und erzählte ihm ausführlich alle ihre Missetaten.
»Ich kann sie nicht ausstehen, die eingebildete Person. Möchte wissen, wofür sie sich hält. Aber ich weiß etwas von ihr, was sie nicht ahnt – und das kriegt sie noch irgendwann von mir zu hören.«
»Wieso? Was ist es denn?«, fragte Philip.
»Ich habe zufällig erfahren, dass sie es nicht verschmäht, das Wochenende hin und wieder mit einem gewissen Herrn in Eastbourne zu verbringen. Eines der Mädchen hat eine verheiratete Schwester, die mit ihrem Mann dort hinfährt, und sie hat sie gesehen. Sie trägt dann einen Ehering und wohnt mit ihm in ein und derselben Pension. Dabei weiß ich genau, dass sie nicht verheiratet ist.«
Philip füllte ihr Glas nach und hoffte auf die belebende Wirkung des Champagners; es war ihm viel daran gelegen, seine Einladung zu einem Erfolg zu machen. Er bemerkte, dass Mildred das Messer hielt, als wäre es ein Federhalter, und dass sie beim Trinken den kleinen Finger wegspreizte. Er versuchte es mit mehreren Gesprächsthemen, konnte aber nur wenig aus ihr herausbekommen. Unwillkürlich musste er daran denken, dass sie mit dem Deutschen gelacht und geplaudert hatte wie ein Wasserfall. Nach dem Dinner gingen sie ins Theater. Philip war ein sehr kultivierter junger Mann und blickte auf die Operette mit Verachtung herab. Er fand die Witze ordinär und die Musik banal; er fand, dass solche Dinge in Frankreich viel besser gemacht wurden; aber Mildred unterhielt sich großartig; sie lachte, bis ihr die Seiten schmerzten, und warf Philip von Zeit zu Zeit, wenn ihr etwas besonders gefiel, einen verständnisinnigen Blick zu, und sie applaudierte wie besessen.
»Das ist das siebte Mal, dass ich dieses Stück sehe«, sagte sie nach dem ersten Akt, »und ich hätte nichts dagegen, es mir noch sieben Mal anzuschauen.«
Sie zeigte großes Interesse an den Frauen, die ringsumher im Parkett saßen, und machte Philip auf diejenigen aufmerksam, die geschminkt waren oder falsches Haar trugen.
»Furchtbar, diese West-End-Leute«, sagte sie. »Ich verstehe nicht, wie man sich so etwas anstecken kann.« Sie fuhr mit der Hand über ihr eigenes Haar. »Bei mir ist alles vollkommen echt.«
Niemand fand Gnade vor ihren Augen, und über jeden hatte sie etwas Unangenehmes zu sagen. Philip wurde ganz nervös. Sicherlich würde sie am nächsten Tage den Mädchen in der Teestube erzählen, dass er
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