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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Stolz verletzt. Er hatte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Alles wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn er gewusst hätte, dass auch sie jetzt litt, aber er kannte sie nur allzu gut: Er war ihr vollkommen egal. Wenn er nicht so ein Dummkopf gewesen wäre, hätte er vorgegeben, ihre Geschichten zu glauben; er hätte stark genug sein müssen, um seine Enttäuschung zu verbergen und Herr seiner selbst zu bleiben. Warum liebte er sie? Er hatte von der Idealisierung gelesen, mit der die Liebe ihren Gegenstand verklärt; davon war bei ihm keine Rede, er sah Mildred so, wie sie war. Sie war weder unterhaltsam noch klug, sie war gewöhnlich; sie hatte eine ordinäre Schlauheit, die ihn abstieß, sie besaß weder Güte noch Feingefühl. Sie war ›auf Gewinn aus‹, wie sie selbst es ausgedrückt hätte. Einen vertrauensseligen Menschen tüchtig hereinlegen, das war es, was sie am meisten bewunderte. Philip lachte gehässig, als er an die Geziertheit und falsche Vornehmheit dachte, mit der sie aß; sie konnte kein derbes Wort ertragen; so weit ihr beschränkter Wortschatz reichte, hatte sie eine Vorliebe für gestelzte Ausdrücke; überall witterte sie Unschicklichkeiten; sie sprach nie von Hosen, sondern nur von Beinkleidern; sie hielt es für unfein, sich die Nase zu putzen, und tat es verstohlen und gleichsam um Entschuldigung bittend. Sie war furchtbar blutarm und litt an der schlechten Verdauung, die dieses Leiden mit sich bringt. Philip fand ihre flache Brust und ihre schmalen Hüften abscheulich und ihre gekünstelte Frisur im höchsten Grade geschmacklos. Er hasste sie und verabscheute sich wegen seiner Liebe zu ihr.
    Und doch blieb er hilflos. Er fühlte sich, wie er sich manchmal in den Händen eines größeren Jungen in der Schule gefühlt hatte. Er hatte gegen einen Überlegenen gekämpft, bis seine eigenen Kräfte erschöpft und er mehr oder weniger machtlos war – er erinnerte sich an die seltsame Schwäche, die er in seinen Gliedern gespürt hatte, beinahe als wäre er gelähmt –, so dass er sich überhaupt nicht helfen konnte. Er hätte sterben mögen. Jetzt fühlte er genau die gleiche Schwäche. Er war so sehr in diese Frau verliebt, dass er erkannte, nie zuvor geliebt zu haben. Ihre schlechten Eigenschaften und charakterlichen Mängel machten ihm nichts aus; er glaubte, auch diese zu lieben: Zumindest waren sie ihm bedeutungslos. Er fühlte, dass er von einer unbekannten Macht getrieben wurde, zu seinem eigenen Schaden; und da er die Freiheit leidenschaftlich liebte, hasste er die Ketten, die ihn fesselten. Wenn er nur daran dachte, wie oft er die große Leidenschaft herbeigesehnt hatte, lachte er bitter. Er verfluchte sich, weil er sich ihr überlassen hatte. Er dachte an den Anfang. All dies wäre nicht geschehen, wenn er nicht mit Dunsford in die Teestube gegangen wäre. Das alles war seine eigene Schuld. Nur seine lächerliche Eitelkeit hatte ihn dazu getrieben, sich um die ungezogene Person zu kümmern.
    Auf alle Fälle war es nun zu Ende. Wenn ihm noch eine Spur von Schamgefühl geblieben war, durfte er nie mehr dorthin zurückkehren. Mit aller Macht wollte er sich von der Liebe befreien, von der er besessen war; es war erniedrigend und verabscheuenswert. Er durfte nicht mehr an sie denken. Nach einer Weile würde sein Schmerz erträglicher werden. Er dachte an die Vergangenheit. Ob Emily Wilkinson und Fanny Price seinetwegen dieselben Qualen ausgestanden hatten, die er nun erlitt? Sein Gewissen regte sich.
    »Ich wusste nicht, wie es ist«, sagte er zu sich selbst.
    Er schlief sehr schlecht. Der nächste Tag war ein Sonntag, und er büffelte Biologie. Das Buch aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch, saß er da und formte die Worte mit den Lippen nach, um sich zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Mildred zurück, und er wiederholte Satz für Satz den Streit, den sie gehabt hatten. Mit Gewalt musste er sich wieder zu seinem Buch zurückrufen. Dann ging er spazieren. Die Straßen längs des Südufers der Themse waren schon an Wochentagen trostlos genug, aber dann waren sie zumindest belebt, ein ständiges Kommen und Gehen verlieh ihnen eine etwas schäbige Munterkeit; aber sonntags, wenn die Läden geschlossen waren und der Verkehr ruhte, wurden sie unsagbar öde. Philip meinte, dass der Tag niemals enden würde. Aber er war so müde, dass er nachts sehr tief schlief und am Montag erfrischt und voller Vorsätze erwachte. Weihnachten stand vor der

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