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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Gelegenheit bot, davonstahl. Thorpe Athelny war ein guter Erzähler. Er sagte nichts Geistreiches, aber er sprach begeisternd, mit kühner Lebendigkeit, die die Phantasie anregte. Philip, der so stark in einer Scheinwelt lebte, fühlte seine Phantasie von Bildern überströmen. Athelny hatte sehr gute Umgangsformen. Er wusste sowohl von Büchern wie von der Welt weit mehr als Philip; er war viel älter, und seine Zungenfertigkeit machte ihn ihm überlegen. Aber hier im Hospital war er ein Wohlfahrtsempfänger, strikten Regeln unterworfen. Er hielt sich mit Grazie und Humor zwischen diesen beiden Positionen. Philip fragte ihn einmal, warum er ins Hospital gekommen sei.
    »Ach, es ist mein Grundsatz, dass man alle Vorteile, die die Gesellschaft zur Verfügung stellt, ausnutzen soll. Ich mache mir das Zeitalter, in dem ich lebe, zunutze. Wenn ich krank bin, lasse ich mich im Hospital zusammenflicken – ich habe keine falsche Scham in dieser Hinsicht –, meine Kinder schicke ich in die öffentlichen Schulen.«
    »Tatsächlich?«, sagte Philip.
    »Und eine großartige Erziehung bekommen sie dort, viel besser als die, die ich in Winchester hatte. Wie sollte ich ihnen allen auch sonst eine Ausbildung ermöglichen? Ich habe neun Kinder. Sie müssen zu uns kommen und sie sich ansehen, wenn ich wieder zu Hause bin. Ja?«
    »Sehr gerne«, sagte Philip.
    87
     
    Zehn Tage später war Thorpe Athelny so weit genesen, dass er das Hospital verlassen konnte. Er gab Philip seine Adresse, und Philip versprach, am folgenden Sonntag um ein Uhr zu ihm zum Essen zu kommen. Athelny hatte ihm gesagt, dass er in einem Hause lebe, das von Inigo Jones erbaut worden war; er hatte von einer alten eichenen Balustrade geschwärmt – wie er von allem schwärmte –, und als er nach unten kam, um ihm zu öffnen, ließ er ihn sogleich das elegante Schnitzwerk der Oberbalken bewundern. Es war ein schäbiges Haus, das dringend einen neuen Anstrich brauchte, aber es hatte die Würde der Zeit, in der es erbaut worden war. Es lag in einer kleinen Straße zwischen Chancery Lane und Holborn, früher einmal eine vornehme Gegend, jetzt aber nicht besser als irgendein Elendsviertel. Es lag bereits ein Plan vor, es niederzureißen und stattdessen hübsche Bürohäuser zu errichten; in der Zwischenzeit jedoch waren die Mieten besonders niedrig, und so konnte Athelny die beiden oberen Stockwerke zu einem Preis mieten, der mit seinem Einkommen in Einklang stand. Philip hatte Athelny noch nicht außerhalb des Bettes gesehen und war nun von seiner Winzigkeit überrascht. Er war nur knapp 1,60   Meter groß und phantastisch angezogen: ein Paar blaue Leinwandhosen, wie sie die Arbeiter in Frankreich tragen, und eine alte braune Samtjoppe; um die Hüften trug er eine leuchtend rote Schärpe; sein Kragen war niedrig, und statt des Schlipses hatte er eine wehende Schleife, wie sie im Punch die komischen Franzosen tragen. Er begrüßte Philip überschwenglich. Er fing sofort begeistert an, von dem Haus zu sprechen, und ließ die Hand zärtlich über die Balustrade gleiten.
    »Sehen Sie, fühlen Sie nur: wie Seide. Was für ein Wunderwerk der Grazie! Und in fünf Jahren wird es der Abbruchunternehmer als Brennholz verkaufen.«
    Er bestand darauf, mit Philip zuerst in ein Zimmer im ersten Stock zu gehen, wo ein Mann in Hemdsärmeln, eine Frau in Bluse und drei Kinder beim Sonntagsessen saßen.
    »Ich habe diesen Herrn nur eben hereingebracht, um ihm Ihre Deckentäfelung zu zeigen. Haben Sie je etwas so Herrliches gesehen? Wie geht’s, Mrs.   Hodgson? Das ist Mr.   Carey, der mich im Hospital betreut hat.«
    »Kommen Sie nur herein«, sagte der Mann. »Ein Freund von Mr.   Athelny ist uns immer willkommen. Mr.   Athelny zeigt allen seinen Freunden die Decke. Und es macht ihm nicht das Geringste aus, was wir gerade tun, ob wir im Bett liegen oder ob ich mich gerade wasche, er kommt herein.«
    Philip sah wohl, dass sie Athelny für ein bisschen seltsam hielten, aber sie mochten ihn trotzdem gut leiden, und sie hörten mit offenem Mund zu, als er mit seiner schwungvollen Beredsamkeit über die Schönheit der Decken des achtzehnten Jahrhunderts predigte.
    »Ist es nicht ein Verbrechen, das abzureißen, Hodgson? Sie sind ein einflussreicher Bürger; warum schreiben Sie nicht an die Zeitungen und legen Protest ein?«
    Der Mann in Hemdsärmeln lachte und sagte zu Philip:
    »Mr.   Athelny muss immer ein Späßchen machen. Sie sagen, die Häuser hier seien so baufällig

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