Der Menschen Hoerigkeit
gehen, und zwar erst in die Männer-, dann in die Frauenabteilung. Er schrieb die Krankheitsgeschichten auf, machte Analysen und begrüßte die Krankenschwestern. Zweimal wöchentlich ging der behandelnde Arzt nachmittags mit einer Gruppe Studenten durch die Säle, untersuchte die Fälle und gab Auskünfte. Der Arbeit fehlte das Aufregende, der ständige Wechsel, der nahe Kontakt mit der Wirklichkeit, den die Arbeit in der ambulanten Abteilung gehabt hatte; aber Philip lernte viel dazu. Er kam gut mit den Patienten zurecht, und es schmeichelte ihm ein wenig, dass sie so viel Gefallen an seiner Betreuung zeigten. Er fühlte nicht etwa ein tiefes Mitleid für ihre Leiden, aber er mochte sie gern. Und weil er sich nicht wichtig nahm, war er beliebter als andere Praktikanten. Er war freundlich, aufmunternd und angenehm im Umgang. Wie jeder, der mit Krankenhausverhältnissen vertraut ist, fand er, dass man mit männlichen Patienten leichter zurechtkommt als mit weiblichen. Die Frauen waren oft streitsüchtig und übellaunig. Sie beklagten sich bitter über die schwer schuftenden Schwestern, die ihnen nicht die Aufmerksamkeit widmeten, die ihnen ihrer Meinung nach zustand. Sie waren schwierig, undankbar und grob.
Philip hatte bald das Glück, einen Freund zu finden. Eines Tages wies ihm der Anstaltsarzt einen neuen Fall zu, einen Mann. Philip begann, auf der Bettkante sitzend, Einzelheiten in die Patientenkarte einzutragen. Er bemerkte, als er sie überflog, dass der Patient als Journalist eingetragen war. Er hieß Thorpe Athelny, ein ungewöhnlicher Name für einen Krankenhauspatienten; er war achtundvierzig Jahre alt. Er hatte einen schweren Gelbsuchtsanfall und war ins Hospital gebracht worden, weil verschiedene unverständliche Symptome eine Beobachtung nötig erscheinen ließen. Er beantwortete die verschiedenen Fragen, die Philip ihm pflichtgemäß stellte, mit angenehmer, gebildeter Stimme. Da er im Bett lag, konnte man schwer sagen, ob er klein oder groß war; der schmale Kopf jedoch und die kleinen Hände ließen darauf schließen, dass er kaum mittelgroß sein mochte. Philip hatte die Angewohnheit, auf die Hände der Menschen zu achten, und Athelnys Hände erstaunten ihn: Sie waren sehr klein, mit langen, spitz zulaufenden Fingern und schönen rosafarbenen Fingernägeln; sie waren sehr glatt und wären wohl auch überraschend weiß gewesen, hätte die Gelbsucht sie nicht gefärbt. Der Patient pflegte sie stets auf die Bettdecke zu legen, die eine leicht gespreizt, wobei der zweite und dritte Finger nahe beieinanderlagen. Er schien sie, während er sprach, mit Befriedigung zu betrachten. Mit einem Funkeln im Blick sah Philip in das Gesicht des Mannes. Trotz der Gelbheit wirkte es distinguiert: Er hatte blaue Augen und eine ausgesprochen kühne Nase, gebogen, angriffslustig, jedoch nicht grob, einen kleinen Bart, grau und spitz, er war ziemlich kahl, aber sein Haar war offensichtlich recht fein und schön gelockt gewesen. Er trug es noch immer lang.
»Ich sehe eben, Sie sind Journalist«, sagte Philip. »Für welche Zeitungen schreiben Sie denn?«
»Ich schreibe für alle Zeitungen. Sie können keine aufmachen, ohne auf meine Artikel zu stoßen.«
Es lag gerade eine neben dem Bett, er zog sie heran und wies auf ein Inserat. In großen Buchstaben stand da der Name einer Philip wohlbekannten Firma: Lynn and Sedley, Regent Street, London, und darunter etwas kleiner, aber noch immer ziemlich groß gedruckt stand der dogmatische Satz: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Dann eine Frage, in ihrer Vernünftigkeit überraschend: Warum nicht heute bestellen? Dann eine Wiederholung, in großen Buchstaben, die sich einhämmerten wie die Schläge in das Gewissen eines Mörders: Warum nicht? Dann kühn: Tausende von Handschuhen von den führenden Geschäften der Welt zu erstaunlichen Preisen. Tausende von Strümpfen der zuverlässigsten Fabrikanten der Welt zu sensationell reduzierten Preisen. Dann kam die Frage wieder, diesmal aber wie eine Herausforderung hingeworfen: Warum nicht heute bestellen?
»Ich bin der Presseagent für Lynn and Sedley.« Er machte eine schwungvolle Geste mit seiner schönen Hand. »Zu welch niederen Zwecken…«
Philip fuhr mit seinen vorschriftsmäßigen Fragen fort; einige davon waren reine Routine, andere waren geschickt ausgedacht, um den Patienten dazu zu bringen, Dinge zu sagen, von denen man annahm, dass er sie lieber verschwieg.
»Haben Sie je im Ausland
Weitere Kostenlose Bücher