Der Menschen Hoerigkeit
nach dem Frühstück würden er und Tante Louisa schnell in die Stadt eilen müssen, um ein Paar neue Schuhe zu kaufen. In der Schule würden sie sprachlos sein.
»Ja, Carey, was ist denn mit deinem Fuß los?«
»Ach, der ist jetzt wieder in Ordnung«, würde er antworten, leichthin, als handle es sich um die natürlichste Sache der Welt.
Er würde Fußball spielen können. Sein Herz hüpfte, da er sich in Gedanken rennen und rennen sah, schneller als irgendeiner der andern Jungen. Am Ende des Osterquartals kamen die Sportspiele, und er würde an den Wettläufen teilnehmen; wie er die Hindernisse nehmen würde! Oh, nicht mehr anders zu sein als die andern! Nicht mehr angestarrt zu werden von den neuen Jungen, die von seinem Gebrechen noch nichts wussten! Nicht mehr diese ängstliche Vorsicht im Sommer, beim Baden, ehe man ausgezogen war und den Fuß im Wasser verstecken konnte!
Er betete mit aller Kraft seiner Seele. Kein Zweifel war in ihm. Er baute auf das Wort Gottes. Und an dem Abend, ehe er in die Schule zurückkehrte, ging er aufgelöst vor Aufregung zu Bett. Es lag Schnee, und Tante Louisa hatte sich den ungewohnten Luxus eines Feuers in ihrem Schlafzimmer geleistet; aber in Philips Zimmerchen war es so kalt, dass seine Finger ganz starr waren und er Mühe hatte, seinen Kragen aufzuknöpfen. Seine Zähne klapperten. Der Gedanke kam ihm, dass er an diesem Abend ein Übriges tun müsste, um Gottes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und er schlug den Teppich zurück, der vor seinem Bett lag, und kniete auf den nackten Brettern; und dann fiel ihm ein, dass sein weiches Nachthemd seinem Schöpfer missfallen könnte, und er zog es aus und betete nackt. Als er endlich im Bette lag, war er so durchgefroren, dass er lange Zeit nicht einschlafen konnte; schließlich fielen ihm doch die Augen zu, und er schlief so fest, dass Mary Ann ihn schütteln musste, als sie am nächsten Morgen das heiße Wasser hereinbrachte. Sie sprach mit ihm, während sie die Vorhänge zurückzog, aber er antwortete nicht; er erinnerte sich sofort, dass dies der Morgen war, an dem das Wunder geschehen musste. Sein Herz war von Freude und Dankbarkeit erfüllt. Sein erster Impuls wollte ihn verleiten, mit der Hand unter die Decke zu fahren und den Fuß zu betasten, der nun heil und gesund war, aber durfte er das tun? Hieß das nicht, an der Güte Gottes zweifeln? Er wusste, dass sein Fuß geheilt war. Endlich fasste er sich ein Herz und berührte mit den Zehen seines rechten Fußes den linken. Dann fuhr er mit der Hand darüber.
Er kam heruntergehumpelt, gerade als Mary Ann zur Morgenandacht ins Esszimmer trat, und setzte sich dann zum Frühstück.
»Du bist heute sehr still, Philip«, sagte Tante Louisa nach einer Weile.
»Er denkt an das gute Frühstück, das er morgen in der Schule bekommen wird«, meinte der Vikar.
Philip antwortete in der Art, die seinen Onkel stets so irritierte, nämlich ohne sich um das zu kümmern, wovon eben die Rede war. Der Vikar nannte das eine Unart. Ein kleiner Junge hatte nicht so eigenbrötlerisch zu sein.
»Wenn jemand Gott um etwas gebeten hat«, fragte er, »einen Berg zu versetzen zum Beispiel, oder so etwas – und fest glaubt, dass es geschehen werde – und nicht im Geringsten zweifelt – und dann geschieht es doch nicht – was hat das zu bedeuten?«
»Was bist du für ein komischer Junge, Philip«, sagte Tante Louisa. »Vor ein paar Wochen hast du auch schon gefragt, wie das mit dem Bergeversetzen zu verstehen ist.«
»Das bedeutet offenbar, dass der Glaube nicht stark genug war«, antwortete Onkel William.
Philip nahm die Erklärung hin. Wenn Gott ihn nicht geheilt hatte, so musste er nicht fest genug geglaubt haben. Und doch war es ihm unvorstellbar, wie man noch fester glauben konnte. Aber vielleicht hatte er Gott nicht genug Zeit gegeben. Er hatte nur neunzehn Tage gebetet. In ein, zwei Tagen wollte er wieder anfangen und diesmal den Zeitpunkt auf Ostern verlegen. Das war der Tag der glorreichen Auferstehung Christi, und in der Freude über seinen Sohn würde sich Gott dem Flehen der Menschenkinder vielleicht geneigter zeigen. Aber nun griff Philip auch noch zu andern Mitteln: Er murmelte seinen Wunsch beim Anblick der Mondsichel oder eines scheckigen Pferdes vor sich hin und fing an, nach Sternschnuppen Ausschau zu halten; unbewusst wandte er sich an Götter, die seinem Volk von Vorzeiten her vertraut waren. Und er bombardierte den Allmächtigen mit Gebeten, zu allen Tagesstunden, wann
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