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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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sie wurde. Er gewöhnte sich daran, sie um sich zu haben. Weihnachten kam, und das bedeutete ein paar Ferientage für Philip. Er brachte Stechpalmenzweige mit nach Hause und schmückte die Wohnung damit, und am Weihnachtstag gab er Mildred und der Kleinen ein paar Geschenke. Da sie nur zu zweit waren, konnten sie keinen Truthahn machen; aber Mildred briet ein Hühnchen und kochte einen Plumpudding. Sie leisteten sich auch eine Flasche Wein. Als sie mit dem Essen fertig waren, setzte sich Philip in den Lehnstuhl beim Kamin und rauchte seine Pfeife. Der ungewohnte Wein ließ ihn die Geldsorgen, die ihn jetzt ständig beschäftigten, vergessen. Er fühlte sich glücklich und behaglich. Bald darauf kam Mildred und sagte ihm, dass die Kleine ihn bitte, ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Lächelnd ging er in Mildreds Schlafzimmer. Dann drehte er, nachdem er der Kleinen gesagt hatte, sie solle jetzt einschlafen, das Gas herunter und ging ins Wohnzimmer zurück. Die Tür ließ er offen, falls das Kind rufen sollte.
    »Wo willst du sitzen?«, fragte er Mildred.
    »Setz dich nur in deinen Stuhl. Ich setze mich auf den Boden.«
    Als er sich hingesetzt hatte, hockte sie sich vor den Kamin und lehnte sich gegen seine Knie. Er konnte nicht umhin, sich zu erinnern, dass sie genau so zusammen in ihrer Wohnung in der Vauxhall Bridge Road gesessen waren, aber die Positionen waren jetzt umgekehrt: Damals war er auf dem Boden gesessen und hatte seinen Kopf gegen ihre Knie gelehnt. Wie leidenschaftlich hatte er sie damals geliebt!
    Er fühlte an diesem Abend eine Zärtlichkeit für sie wie seit langem nicht mehr. Er schien noch die sanften Ärmchen der Kleinen um seinen Hals zu fühlen.
    »Ist es bequem so?«, fragte er.
    Sie sah zu ihm auf, lächelte ihn leise an und nickte mit dem Kopf. Sie schauten träumend ins Feuer, ohne miteinander zu reden. Schließlich wandte sie sich zu ihm und sah ihn seltsam an.
    »Weißt du, dass du mich noch nie geküsst hast, seit ich hergekommen bin?«, fragte sie plötzlich.
    »Möchtest du es denn?«
    »Wahrscheinlich magst du mich – in der Art – nicht mehr.«
    »Ich habe dich sehr lieb.«
    »Aber die Kleine viel lieber.«
    Er antwortete nicht, und sie legte ihre Wange gegen seine Hand.
    »Du bist mir nicht böse?«, fragte sie mit gesenkten Augen.
    »Lieber Gott, warum sollte ich das denn?«
    »Ich habe dich noch nie so gern gehabt wie jetzt. Erst jetzt, da ich durch das Fegefeuer gegangen bin, habe ich dich lieben gelernt.«
    Es schauderte Philip, sie eine Phrase gebrauchen zu hören, die man in jedem Schmöker fand. Dann fragte er sich, ob ihre Worte eine Bedeutung für sie hatten: Vielleicht konnte sie ihre wahren Gefühle nicht anders ausdrücken als in der gekünstelten Sprache der Groschenromane.
    »Es ist so komisch, dass wir in dieser Art zusammenleben.«
    Es verging eine Weile, ehe er antwortete; sie schwiegen beide, aber schließlich sprach er, und es war, als hätte er die Pause gar nicht bemerkt. »Du darfst mir nicht böse sein. Man kann nichts gegen all diese Sachen tun. Ich erinnere mich, dass ich glaubte, du bist bösartig und grausam, weil du dies, das oder sonst etwas getan hast. Aber das war sehr töricht von mir. Du hast mich nicht geliebt, und es war dumm, dass ich dir dafür die Schuld gegeben habe. Ich dachte, ich könnte dich so weit bringen, mich zu lieben; jetzt aber weiß ich, dass das unmöglich war. Ich weiß nicht, was es eigentlich ist, was einen Menschen veranlasst, einen andern zu lieben; was es aber auch sein mag, es ist das Einzige, worauf es ankommt, und wenn es nicht vorhanden ist, so kann man es durch keine Güte, Großzügigkeit oder sonst etwas herbeischaffen.«
    »Ich dachte, wenn du mich wirklich geliebt hast, dann müsstest du mich noch immer lieben.«
    »Das hatte ich auch gedacht. Ich weiß noch sehr gut, wie ich glaubte, das würde immer so bleiben. In mir war ein Gefühl, dass ich lieber sterben als ohne dich weiterleben wollte. Damals sehnte ich die Zeit herbei, wenn du alt und voll Runzeln sein würdest, damit niemand mehr da wäre, der sich um dich kümmerte, und ich dich ganz für mich hätte.«
    Sie antwortete nicht, aber bald darauf stand sie auf und sagte, sie ginge nun zu Bett. Sie lächelte ihn, etwas scheu, an.
    »Heute ist Weihnachtsabend, Philip, willst du mir keinen Gutenachtkuss geben?«
    Er lachte auf, errötete leicht und küsste sie. Sie ging in ihr Schlafzimmer, und er begann zu lesen.

96
     
    Nach zwei oder drei Wochen erreichte die

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