Der Menschen Hoerigkeit
sie grob. »Vielleicht kannst du mir sagen, wovon ich leben soll.«
Er packte ihren Arm, und ohne eigentlich zu wissen, was er tat, versuchte er sie mit sich fortzuziehen.
»Himmelherrgott, komm schon mit. Ich bringe dich nach Hause. Du weißt ja nicht, was du tust. Es ist kriminell.«
»Das soll nicht meine Sorge sein. Mögen sie das Risiko tragen. Die Männer haben sich mir gegenüber nicht so herrlich benommen, dass ich mir deswegen den Kopf zerbrechen müsste.«
Sie stieß ihn von sich, ging zur Kasse und legte ihr Geld hin.
Philip hatte nur ein paar Pennys in der Tasche, er konnte ihr nicht folgen. Er drehte sich um und ging langsam die Oxford Street hinunter.
›Ich kann nichts mehr tun‹, sagte er sich.
Das war das Ende. Er sah sie nie wieder.
110
Da Weihnachten in diesem Jahr auf einen Donnerstag fiel, blieb das Geschäft vier Tage lang geschlossen. Philip schrieb seinem Onkel und fragte, ob es ihm recht wäre, wenn er seine Weihnachtsferien in Blackstable verbrachte. Die Antwort kam von Mrs. Foster. Sie teilte ihm mit, dass Mr. Carey sich nicht wohl genug fühle, um selbst zu schreiben, aber gern seinen Neffen sehen möchte. Er würde sich freuen, wenn er käme. Sie empfing Philip an der Tür und sagte bei der Begrüßung:
»Sie werden ihn sehr verändert finden, Sir. Aber Sie tun so, als bemerkten Sie nichts, nicht wahr, Sir? Sein Zustand beunruhigt ihn sehr.«
Philip nickte. Sie führte ihn ins Esszimmer.
»Mr. Philip ist da, Sir.«
Der Vikar von Blackstable stand an der Schwelle des Todes. Darüber bestand kein Zweifel mehr, man brauchte nur seine hohlen Wangen und den zusammengefallenen Körper zu sehen. Er saß zusammengekrümmt in seinem Stuhl, der Kopf war seltsam zurückgeworfen, um seine Schultern lag ein Schal gebreitet. Er konnte nicht mehr gehen, ohne sich dabei auf Stöcke zu stützen, seine Hände zitterten so sehr, dass er nur mehr mit Mühe essen konnte.
›Es kann wohl nicht mehr lange dauern‹, dachte Philip bei sich, als er ihn ansah.
»Na, wie sehe ich aus?«, fragte der Vikar. »Findest du, dass ich mich seit deinem letzten Besuch sehr verändert habe?«
»Ja, kräftiger siehst du aus als im letzten Sommer.«
»Das war die Hitze damals. Die wirft mich immer um.«
Mr. Careys Geschichte der letzten Monate war nichts als eine Aufzählung der Wochen, die er hatte im Bett zubringen müssen, und derjenigen, die er unten verlebt hatte. Neben sich hatte er eine Glocke stehen, und während er sprach, klingelte er nach Mrs. Foster, die im angrenzenden Zimmer bereitsaß, falls er etwas wünschte. Er wollte nur wissen, an welchem Tage er zum ersten Mal wieder das Schlafzimmer hatte verlassen dürfen.
»Am siebenten November, Sir.«
Mr. Carey beobachtete Philip, um genau zu sehen, wie er diese Mitteilung aufnahm.
»Aber ich esse immer reichlich, nicht, Mrs. Foster?«
»Ja, Sir, Sie haben einen wunderbaren Appetit.«
»Trotzdem setze ich kein Fett dabei an.«
Ihn interessierte jetzt nichts anderes als seine Gesundheit. Er wollte leben, nichts als leben, und ihm waren die Eintönigkeit dieses Lebens und die ständigen Schmerzen gleichgültig, die es ihm unmöglich machten, ohne Morphium zu schlafen.
»Ich muss schrecklich viel Geld für die Arztrechnungen ausgeben.« Er zog wieder an seiner Glocke. »Mrs. Foster, zeigen Sie Master Philip die Apothekerrechnung.«
Geduldig nahm sie sie vom Kaminsims und übergab sie Philip.
»Das ist nur für einen Monat. Ich habe mich gefragt, ob du als Arzt mir die Arzneien nicht billiger verschaffen könntest. Ich habe daran gedacht, sie direkt von einer Firma zu beziehen, aber dann kommt wieder die Postgebühr dazu.«
Obwohl er wenig Anteil an Philips Leben zu nehmen schien und sich nicht einmal die Mühe machte, sich nach seiner Arbeit zu erkundigen, war er offenbar froh, ihn bei sich zu haben. Er fragte, wie lange er bleiben könne, und als Philip ihm sagte, er müsse Dienstagmorgen wieder abfahren, drückte er den Wunsch aus, der Besuch wäre länger. Er schilderte ihm alle Krankheitssymptome und wiederholte, was der Doktor gesagt hatte. Er unterbrach sich, um wieder zu läuten. Als Mrs. Foster hereinkam, sagte er:
»Ich wollte nur sehen, ob Sie nebenan sind.«
Nachdem sie gegangen war, erklärte er Philip, dass es ihn beunruhige, wenn er nicht genau wisse, dass Mrs. Foster in Reichweite sei. Sie wisse ganz genau, was zu tun wäre, wenn ihm etwas zustieße. Philip hatte gesehen, dass sie übermüdet
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