Der Menschen Hoerigkeit
empfand er die Schönheit des Glaubens, so glühend brannte der Wunsch nach Selbstaufopferung in seinem Herzen, dass daran gemessen seine Kräfte schwach und unzulänglich schienen. Die Heftigkeit seines Gefühls erschöpfte sich. Eine plötzliche Dürre überkam seine Seele. Er begann die Nähe Gottes, die ihm so allgegenwärtig erschienen war, zu vergessen, und seine frommen Übungen, obgleich immer noch pünktlich verrichtet, wurden zu rein äußerlichen Konventionen. Anfangs machte er sich Vorwürfe wegen seiner Abtrünnigkeit, und die Angst vor der Hölle spornte ihn zu erneutem Eifer an; aber die Flamme war tot, und allmählich lenkten andere Interessen seine Gedanken ab.
Philip hatte nur wenig Freunde. Die Gewohnheit des Lesens isolierte ihn; sie wurde ihm dermaßen zum Bedürfnis, dass er nie lange in Gesellschaft bleiben konnte, ohne müde und unruhig zu werden; er war stolz auf das Wissen, das er sich durch die Lektüre seiner Bücher angeeignet hatte, sein Geist war lebendig, und es fehlte ihm das Geschick, seine Verachtung für die Beschränktheit seiner Klassenkameraden zu verbergen. Sie erklärten ihn für eingebildet, und da er sich nur auf Gebieten auszeichnete, die ihnen selbst unwichtig erschienen, fragten sie sich plötzlich, worauf er sich denn eigentlich so viel einbilde. Allmählich hatte sich in ihm ein gewisser Sinn für Humor entwickelt und damit die Fähigkeit, kleine, sarkastische Bemerkungen fallenzulassen, mit denen er die Menschen an ihren empfindlichsten Stellen traf. Er sprach solche Bemerkungen aus, ohne darüber nachzudenken, wie verletzend sie sein konnten, und war tief gekränkt, wenn er erkannte, dass seine Attacken mit lebhafter Antipathie vergolten wurden. Die Demütigungen, die er erlitten hatte, als er neu in die Schule gekommen war, hatten in ihm eine Scheu seinen Mitschülern gegenüber hervorgerufen, die er niemals überwand; er blieb still und schüchtern. Aber obgleich er alles tat, sich die Zuneigung der anderen Jungen zu verscherzen, sehnte er sich mit ganzem Herzen nach der Beliebtheit, die einigen von ihnen so mühelos in den Schoß fiel. Diese Jungen bewunderte er aus der Ferne überschwenglich; zwar zeigte er sich ihnen gegenüber noch sarkastischer als gewöhnlich, zwar sparte er nicht mit kleinen Späßen auf ihre Kosten – und doch hätte er alles gegeben, um mit ihnen zu tauschen; er hätte freudig mit dem dümmsten Jungen der Schule getauscht, der gesunde Glieder hatte. Er nahm eine merkwürdige Gewohnheit an; er malte sich irgendeinen Jungen aus, der ihm in jeder Hinsicht gefiel; er verpflanzte sozusagen seine Seele in den Körper des andern, sprach mit seiner Stimme, lachte mit seinem Lachen; in seiner Vorstellung tat er alles, was der andere getan hätte. Diese Phantasie war so lebhaft, dass er momentweise wirklich glaubte, nicht mehr er selbst zu sein. Dieses Spiel bereitete ihm manche Stunde phantastischen Glücks.
Zu Beginn des Weihnachtssemesters, das seiner Konfirmation folgte, wurde Philip in ein neues Studierzimmer versetzt. Einer der Jungen, die es mit ihm teilten, hieß Rose. Er war in der gleichen Klasse wie Philip, der ihn stets mit neidvoller Bewunderung betrachtete. Man konnte ihn nicht schön nennen. Obgleich seine großen Hände und starken Knochen darauf schließen ließen, dass er sehr groß werden würde, war er plump gebaut; aber seine Augen waren bezaubernd, und wenn er lachte (er lachte immer), legte sich sein ganzes Gesicht in lustige Falten. Er war weder dumm noch gescheit, aber er lernte gut und war besonders tüchtig im Sport. Lehrer und Schüler liebten ihn gleichermaßen, und er seinerseits hatte alle gern.
Als Philip in das neue Studierzimmer einzog, bemerkte er bald, dass ihn die anderen, die das Zimmer schon länger teilten, mit geringer Begeisterung aufnahmen. Es war ihm unbehaglich, sich als Eindringling zu fühlen, aber er hatte gelernt, seine Gefühle zu verbergen, und sie hielten ihn für still und bescheiden. Rose gegenüber zeigte er sich, da er seinem Charme ebenso wenig widerstehen konnte wie alle anderen, noch schüchterner und schroffer als gewöhnlich. Ob nun aus dem unbewussten Streben, seinen Zauber wirken zu lassen, den er nur durch Resultate unter Beweis stellen konnte, oder aus reiner Herzensgüte, jedenfalls war es Rose, der sich Philip als Erster näherte. Eines Tages fragte er ihn, ob er mit ihm zum Fußballplatz gehen wollte. Philip errötete.
»Ich kann nicht so schnell gehen wie du«, sagte
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