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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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angenommen.
    Philip führte nun ein angenehmes Dasein, denn während er sich bisher in dem allgemeinen Saal hatte aufhalten müssen, in dem gegessen wurde und in dem die unteren Klassen ihre Schularbeiten erledigten, waren für die oberen Klassen eigene Studierzimmer eingerichtet. Das frühere Durcheinander hatte ihn gestört und abgestoßen. Hie und da wurde er der vielen Menschen überdrüssig und fühlte das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Er unternahm lange, einsame Spaziergänge ins Freie. Durch grüne Wiesen floss ein kleiner Bach, von Bäumen eingesäumt, und es machte Philip glücklich, an seinen Ufern dahinzuwandern. Wenn er müde war, legte er sich im Gras auf den Bauch und betrachtete das emsige Hin und Her der Käfer und Insekten. Einen besonderen Reiz hatte es für ihn, durch die Schulanlagen zu schlendern. Auf dem Rasen in der Mitte wurde im Sommer Netzball geübt, aber den übrigen Teil des Jahres war es hier still: Hie und da sah man ein paar Knaben Arm in Arm einherspazieren oder einen fleißigen Burschen abwesenden Blickes langsam auf und ab schreiten und sich etwas vorsagen, das er auswendig zu lernen hatte. In den großen Ulmen hatte sich ein Schwarm von Krähen angesiedelt, und ihr melancholisches Krächzen erfüllte die Luft. Auf der einen Seite lag die Kathedrale mit ihrem mächtigen Mittelturm, und Philip, der noch nichts von Schönheit wusste, fühlte ein beunruhigendes Entzücken, wenn er ihn betrachtete, das er sich nicht erklären konnte. Als er ein Studierzimmer bekam (es war ein kleiner viereckiger Raum, der auf ein Armeleutegässchen hinausging und den sich vier Jungen teilten), kaufte er sich eine Fotografie der Kathedrale und nagelte sie über seinem Pult an die Wand. Und er entdeckte ein neues Interesse in sich für den Blick aus dem Fenster seines Klassenzimmers. Man sah auf sorgfältig gepflegte alte Rasenflächen und schöne Bäume mit tiefem, üppigem Laubwerk. Dann schlich sich ein merkwürdiges Gefühl in sein Herz, und er wusste nicht, ob es ihm gefiel oder ihn schmerzte. Es war die erste Regung ästhetischen Empfindens. Gleichzeitig geschahen auch andere Veränderungen: Er kam in den Stimmbruch. Er hatte seine Stimme nicht mehr in der Gewalt, und merkwürdige Laute drangen aus seiner Kehle.
    Dann begann er an den Konfirmationsstunden teilzunehmen, die gleich nach dem Tee im Studierzimmer des Direktors abgehalten wurden. Philips Frömmigkeit hatte der Probe der Zeit nicht standgehalten. Längst hatte er seine abendliche Bibellektüre aufgegeben; aber nun, unter dem Einfluss von Mr. Perkins und den Veränderungen seines Körpers, die ihn so ruhelos machten, lebten die alten Gefühle wieder auf, und er machte sich bittere Vorwürfe wegen seines Abfalls. Vor seinem inneren Auge sah er die höllischen Feuer lodern. Wenn er während jener Zeit gestorben wäre, in der er wenig besser als ein Ungläubiger gewesen war, wäre er verloren gewesen; er glaubte blind an die ewige Pein, und er glaubte viel fester an sie als an die ewige Seligkeit. Und er schauderte, wenn er an die Gefahren dachte, in der seine Seele geschwebt hatte.
    Seit dem Tag, an dem Mr.   Perkins so gütig zu ihm gewesen war und ihm über seinen Kummer hinweggeholfen hatte, hatte Philip eine hündische Zuneigung zu ihm gefasst. Er zerbrach sich vergebens den Kopf, was er tun sollte, um ihm eine Freude zu machen. Er war glücklich über das kleinste Wort des Lobes, das über seine Lippen kam. Und wenn er zu den stillen kleinen Zusammenkünften in das Haus des Direktors ging, war er erfüllt von hingebungsvoller Bereitschaft. Er hing an Mr.   Perkins glänzenden Augen und saß mit halbgeöffnetem Munde da, den Kopf ein wenig vorgestreckt, um nur ja kein Wort zu verpassen. Die Schlichtheit der Umgebung machte den Gegenstand, mit dem man sich beschäftigte, besonders ergreifend. Oft geschah es, dass der Lehrer, hingerissen von dem Wunderbaren seines Stoffes, das vor ihm liegende Buch zurückschob und über die Mysterien der Religion zu sprechen anfing. Philip verstand nicht immer, aber er wollte gar nicht verstehen; ihm genügte es zu fühlen. Der Direktor mit seinem schwarzen, wirren Haar und dem blassen Gesicht erschien ihm dann wie einer jener Propheten Israels, die sich nicht scheuten, Könige zur Rechenschaft zu ziehen; und wenn er an den Erlöser dachte, sah er ihn mit den gleichen dunklen Augen und den gleichen bleichen Wangen.
    Mr.   Perkins nahm den Konfirmationsunterricht sehr ernst. Hier war nie etwas

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