Der Menschen Hoerigkeit
er.
»Unsinn, komm.«
Und als ein anderer Junge den Kopf zur Tür hereinsteckte und Rose aufforderte, mit ihm zu kommen, rief er ihm zu:
»Ich kann nicht. Bin mit Carey verabredet.«
»Mach dir um mich keine Gedanken«, sagte Philip schnell. »Es macht mir nichts aus.«
»Unsinn«, gab Rose zurück.
Er sah Philip mit seinen gutmütigen Augen an und lachte. Philip fühlte ein merkwürdiges Ziehen im Herzen.
Ihre Freundschaft wuchs mit jungenhafter Schnelligkeit, und bald waren sie ein unzertrennliches Paar. Die andern wunderten sich über diese glückliche Intimität, und Rose wurde gefragt, was er denn eigentlich an Philip finde.
»Ach, ich weiß nicht«, antwortete er. »Er ist gar nicht so übel, wirklich nicht.«
Bald gewöhnte man sich daran, die beiden Arm in Arm zur Kirche oder plaudernd in den Anlagen spazieren gehen zu sehen; wo der eine war, war auch der andere zu finden; so selbstverständlich wurde ihre Zusammengehörigkeit, dass man jede für Rose bestimmte Botschaft ohne weiteres Carey auftrug. Philip verhielt sich anfangs reserviert. Er sträubte sich in seinem Innern, sich voll und ganz der stolzen Freude hinzugeben, die ihn erfüllte. Aber bald wich sein Misstrauen dem Schicksal gegenüber einer ungezügelten Seligkeit. Er fand, dass Rose der wunderbarste Bursche sei, den er je gesehen habe. Bücher interessierten ihn nun nicht mehr; was sollte er mit ihnen anfangen, wenn es etwas so weitaus Wichtigeres für ihn gab. Roses Freunde kamen manchmal zum Tee in sein Studierzimmer oder saßen bei ihm herum, wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hatten – Rose war gerne in Gesellschaft und freute sich über jede Gelegenheit, Unfug zu machen –, und alle fanden, dass Philip eigentlich ein recht netter Junge sei. Philip war glücklich.
Am letzten Tag vor den Ferien besprachen Rose und er, mit welchem Zug sie zurückfahren sollten, so dass sie sich am Bahnhof treffen und vor ihrer Rückkehr in die Schule in der Stadt miteinander Tee trinken könnten. Philip fuhr schweren Herzens nach Hause. Er dachte die ganzen Ferien über an Rose und malte sich aus, was er im nächsten Semester mit ihm unternehmen wollte. Er langweilte sich im Pfarrhaus, und als sein Onkel am letzten Tage den gewohnten scherzhaften Ton anschlug und die gewohnte Frage stellte:
»Na, freust du dich auf die Schule?«, antwortete Philip freudig: »Ja, sehr.«
Um auf jeden Fall pünktlich zur Stelle zu sein, nahm er einen früheren Zug als vorgesehen und wartete ungefähr eine Stunde am Bahnhof. Als Roses Zug aus Faversham endlich einfuhr, lief er aufgeregt die Waggons entlang. Aber Rose war nicht da. Er fragte einen Träger, wann der nächste Zug komme, und wartete weiter; aber wieder wurde er enttäuscht; er fror und war hungrig und ging schließlich durch Seitenstraßen und Armenviertel auf dem kürzesten Weg zur Schule. Er fand Rose im Studierzimmer, die Füße auf dem Kaminrand, in angeregter Unterhaltung mit einem halben Dutzend Jungen, die auf allem saßen, auf dem man sitzen konnte. Er begrüßte Philip mit überschwenglicher Herzlichkeit, aber Philips Herz sank, als er erkannte, dass Rose die Verabredung mit ihm völlig vergessen hatte.
»Wo hast du denn gesteckt?«, fragte Rose. »Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr kommen.«
»Ich habe dich um halb vier auf dem Bahnhof gesehen«, sagte ein anderer Junge.
Philip errötete leicht. Rose sollte nicht wissen, dass er ein solcher Narr gewesen war, auf ihn zu warten.
»Ich musste eine Bekannte begleiten«, log er schnell. »Man hat mich gebeten, sie in den Zug zu setzen.«
Aber seine Enttäuschung machte ihn verstockt. Er saß still da und antwortete nur einsilbig, wenn er angesprochen wurde. Er nahm sich vor, Rose unter vier Augen seine Meinung zu sagen. Aber als die andern gegangen waren, kam Rose sofort auf ihn zu und setzte sich auf seine Stuhllehne.
»Fein, dass wir wieder in dem gleichen Studierzimmer sind, nicht? Ich bin sehr froh.«
Er schien so ehrlich erfreut, Philip zu sehen, dass Philips Kränkung dahinschwand. Und als wären sie keine fünf Minuten getrennt gewesen, fingen sie an, voller Eifer über die tausend Dinge zu reden, die sie interessierten.
19
Anfangs war Philip viel zu dankbar für Roses Freundschaft, um irgendwelche Forderungen an ihn zu stellen. Er nahm die Dinge, wie sie kamen, und freute sich seines Lebens. Bald aber begann er, Rose seine Liebenswürdigkeiten den andern gegenüber übelzunehmen; er verlangte eine
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