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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Philip an die beiden Gottesdienste jeden Sonntag in Blackstable. Die Kirche war kahl und kalt, und es roch nach Pomade und gestärkten Kleidern. Einmal predigte der Kurat und einmal sein Onkel. Als er älter wurde, lernte er seinen Onkel immer besser kennen. Philip war sehr direkt und unduldsam und konnte nicht begreifen, dass ein Mensch als Geistlicher Dinge predigen durfte, die er im Leben niemals selbst beherzigte. Die Heuchelei empörte ihn. Sein Onkel war ein schwacher, egoistischer Mensch, dessen oberstes Ziel es war, sich nicht anstrengen zu müssen.
    Mr.   Perkins hatte ihm von der Schönheit eines Lebens im Dienste Gottes erzählt. Philip wusste, welche Art von Leben der Klerus in seiner Heimat, in East Anglia, führte. Da gab es den Vikar von Whitestone, einer Pfarrei in der Nähe von Blackstable: Er war Junggeselle, und um sich zu beschäftigen, hatte er sich vor kurzem der Landwirtschaft zugewandt: Die Lokalzeitung berichtete dauernd über die Prozesse, die er im Provinzialgericht gegen diesen und jenen anstrengte, vor allem Arbeiter, denen er den Lohn nicht bezahlen wollte, und Händler, die er wegen Betrugs anklagte. Es ging das Gerücht, er ließe seine Kühe verhungern, und es wurde viel über eine gemeinschaftliche Aktion gesprochen, die gegen ihn unternommen werden sollte. Dann gab es noch den Vikar aus Ferne, einen bärtigen, schönen Mann: Seiner Brutalität wegen war seine Frau gezwungen gewesen, ihn zu verlassen, und sie hatte in der Nachbarschaft Geschichten über seine Unsittlichkeit verbreitet. Der Vikar von Surle, einem winzigen Dorf am Meer, wurde jeden Abend im Wirtshaus gesehen, das nur einen Katzensprung vom Pfarrhaus entfernt lag; die Kirchenvorsteher waren bei Mr.   Carey gewesen, um diesen um Rat zu fragen. Die Geistlichen hatten niemanden, um sich zu unterhalten, außer Kleinbauern und Fischern; es gab lange Winterabende, an denen der Wind traurig durch die kahlen Äste pfiff und weit und breit nichts zu sehen war als die Eintönigkeit der umgepflügten Felder; und es gab Armut und zu wenig Arbeit, die einen erfüllte; jede kleine charakterliche Schwäche konnte sich ungehindert entfalten, nichts hielt sie zurück; sie wurden engherzig und überspannt. Philip wusste dies alles, aber in seiner jugendlichen Intoleranz fand er dafür keine Entschuldigung. Er schauderte bei dem Gedanken, ein solches Leben zu führen; er wollte in die Welt hinausgehen.
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    Mr.   Perkins merkte bald, dass seine Worte ihre Wirkung auf Philip verfehlt hatten, und bemühte sich nun nicht weiter um ihn. Er schrieb ihm ein Zeugnis, das an Schärfe nichts zu wünschen übrigließ. Als es eintraf und Tante Louisa fragte, wie es denn ausgefallen wäre, antwortete Philip munter:
    »Miserabel.«
    »So?«, sagte der Vikar. »Ich werde es mir nachher ansehen.«
    »Glaubt ihr, dass es einen Sinn hat, dass ich noch länger in Tercanbury bleibe? Es wäre vielleicht gescheiter, ich ginge für eine Weile nach Deutschland.«
    »Was bringt dich auf solche Ideen?«, rief Tante Louisa.
    »Findest du sie nicht ganz vernünftig?«
    Sharp war bereits von der Schule abgegangen und hatte Philip aus Hannover geschrieben. Er war also tatsächlich hinausgetreten ins Leben, und sein Beispiel ließ Philip keine Ruhe. Ein weiteres Jahr der Unfreiheit schien ihm unerträglich.
    »Aber dann bekommst du ja kein Stipendium.«
    »Das bekomme ich ja auf keinen Fall. Und eigentlich zieht es mich nicht so besonders nach Oxford.«
    »Ja, aber du willst doch Geistlicher werden, Philip!«, rief Tante Louisa bestürzt aus.
    »Das habe ich längst aufgegeben.«
    Mrs.   Carey blickte ihn mit erschrockenen Augen an, bezwang sich aber in gewohnter Selbstbeherrschung und schenkte ihrem Mann eine zweite Tasse Tee ein. Niemand sprach. Nach einer Weile sah Philip, dass Tante Louisa weinte. Sein Herz krampfte sich zusammen, weil er ihr Schmerz verursacht hatte. In ihrem engen schwarzen Kleid, von der Schneiderin in der Hauptstraße genäht, mit ihrem verrunzelten Gesicht, den blassen, müden Augen und ihrem grauen, immer noch in die neckische Löckchenfrisur ihrer Jugendzeit gelegten Haar, war diese Frau eine lächerliche, aber seltsam anrührende Figur. Philip bemerkte es zum ersten Mal.
    Später, als sich der Vikar mit dem Kurat in sein Studierzimmer eingeschlossen hatte, legte er den Arm um ihre Schultern:
    »Es tut mir furchtbar leid, dass es dich bekümmert, Tante Louisa«, sagte er. »Aber es hat doch keinen Sinn, dass ich Geistlicher werde,

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