Der Menschen Hoerigkeit
wenn ich mich nicht berufen fühle, nicht?«
»Ich bin so enttäuscht, Philip«, klagte sie. »Ich hatte mein Herz daran gehängt. Ich dachte mir, du würdest Kurat bei deinem Onkel werden und später einmal, wenn wir nicht mehr sind – denn wir können ja nicht ewig leben –, seine Stelle übernehmen.«
Philip schauderte. Entsetzen packte ihn. Sein Herz schlug wie eine Taube, die in eine Falle geraten ist, mit ihren Flügeln. Seine Tante weinte still, den Kopf an seine Schulter gelegt.
»Ach, rede doch Onkel William zu, mich von Tercanbury wegzunehmen. Ich halte es dort nicht mehr aus.«
Aber der Vikar von Blackstable änderte nicht so leicht einen einmal gefassten Entschluss, und es war immer vorgesehen gewesen, dass Philip, bis er achtzehn war, an der Schule bleiben und dann nach Oxford kommen sollte. Unter keinen Umständen durfte er sofort abgehen, denn es war nicht gekündigt worden, und das Schulgeld musste auf jeden Fall bezahlt werden.
»Willst du dann wenigstens für Weihnachten kündigen?«, fragte Philip am Ende eines langen und teilweise erbitterten Gesprächs.
»Ich werde Mr. Perkins schreiben und hören, was er meint.«
»Ach, wäre ich doch schon einundzwanzig! Es ist schrecklich, immer nach anderer Leute Pfeife tanzen zu müssen.«
»Philip, so solltest du nicht mit deinem Onkel sprechen«, mahnte Mrs. Carey sanft.
»Perkins wird mich bestimmt nicht weglassen wollen. Begreift ihr das nicht? Er bekommt doch für jeden Jungen Schulgeld.«
»Warum willst du nicht nach Oxford gehen?«
»Weil es keinen Sinn hat, wenn ich nicht in die Kirche eintrete.«
»Was heißt das: in die Kirche eintreten? Du bist bereits in der Kirche«, sagte der Vikar.
»Ach, du weißt schon, was ich meine«, antwortete Philip ungeduldig.
»Was willst du also werden, Philip?«, fragte Mrs. Carey.
»Das weiß ich noch nicht. Aber was es auch ist, Fremdsprachen werden mir immer nützlich sein. Ich hätte bestimmt viel mehr davon, ein Jahr in Deutschland zu verbringen, als noch länger in diesem Loch sitzen zu bleiben.«
Er wollte nicht sagen, dass er sich unter Oxford nichts weiter als eine Fortsetzung seines Schuldaseins vorstellte. Und dieses Dasein sah er als etwas Verfehltes an. Er wünschte von ganzer Seele, sein eigener Herr zu sein. Er wollte von vorn anfangen. Außerdem würden ihn dort viele alte Schulkameraden kennen, und denen wollte er entfliehen, er sehnte sich nach einem Neuanfang.
Es ergab sich, dass sein Wunsch, nach Deutschland zu gehen, zufällig mit gewissen Ideen zusammenfiel, die in letzter Zeit in Blackstable aufgetaucht waren. Manchmal kamen Freunde, die Neuigkeiten aus der Welt mitbrachten; und die auswärtigen Gäste, die den August am Meer verbrachten, hatten ihre eigene Sicht der Dinge. Der Vikar hörte, dass es Leute gab, die nicht mehr ganz überzeugt von den alten Erziehungsmethoden waren; vor allem den modernen Sprachen begann man große Wichtigkeit zuzuschreiben. Er selbst war hin- und hergerissen, denn einer seiner jüngeren Brüder war, nachdem er eine Prüfung nicht bestanden hatte, nach Deutschland geschickt worden. Das war ein Präzedenzfall gewesen, aber da er dort an Typhus gestorben war, konnte man dieses Experiment nur als gefährlich ansehen. Nach unzähligen Gesprächen gelangte man schließlich zu dem Ergebnis, dass Philip noch ein Quartal in Tercanbury bleiben und dann abgehen sollte. Mit diesem Arrangement war Philip nicht unzufrieden. Ein paar Tage nach seiner Rückkehr in die Schule ließ ihn der Direktor zu sich rufen.
»Ich habe einen Brief von deinem Onkel bekommen. Er schreibt, dass du nach Deutschland gehen möchtest, und fragt mich, was ich davon halte.«
Philip war befremdet. Er war wütend auf seinen Vormund, der sein Wort zurückzog.
»Ich dachte, das wäre bereits entschieden, Sir«, sagte er.
»Weit gefehlt. Ich habe ihm geschrieben, ich halte es für den größten Fehler, dich von hier wegzunehmen.«
Philip setzte sich sofort hin und schrieb einen hitzigen Brief an seinen Onkel. Er legte seine Worte nicht auf die Waagschale. Er war so erbost, dass er lange nicht einschlafen konnte, und als er am frühen Morgen aufwachte, war er noch immer erzürnt über die Art, wie er behandelt worden war. Er wartete ungeduldig auf eine Antwort. Nach zwei oder drei Tagen kam sie. Es war ein nachsichtiger Brief von Tante Louisa, in dem sie schrieb, er solle seinem Onkel nicht solche Dinge schreiben, dieser sei sehr bekümmert. Er sei unfreundlich und
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