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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Tränen.
    »Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich wollte nicht so ekelhaft sein.«
    Er kniete sich neben sie hin und umschlang sie und küsste ihre feuchten, faltigen Wangen. Sie schluchzte bitterlich, und auf einmal fühlte er Mitleid mit ihrem ganzen vergeudeten Leben. Niemals zuvor hatte sie sich zu einem solchen Gefühlsausbruch hinreißen lassen.
    »Ich weiß, ich bin für dich nicht das gewesen, was ich gerne hätte sein wollen, Philip, aber ich wusste nicht, wie ich es machen sollte. Es ist für mich ebenso furchtbar, keine Kinder zu haben, wie für dich, keine Mutter zu haben.«
    Philip vergaß seinen Zorn und seinen Kummer, er wollte nichts als sie trösten, mit ungeschickten Worten und unbeholfenen kleinen Zärtlichkeiten. Dann schlug die Uhr, und er musste auf der Stelle weglaufen, um den einzigen Zug nach Tercanbury zu erreichen. Als er in der Ecke eines Zugabteils saß, erkannte er, dass er nichts ausgerichtet hatte. Er ärgerte sich über seine Schwäche. Es war verachtenswert, dass er sich durch das wichtigtuerische Gehabe des Vikars und die Tränen seiner Tante von seinem Vorsatz hatte abbringen lassen. Aber infolge von Gesprächen zwischen dem Paar, von denen er nichts wusste, war erneut ein Brief an den Direktor geschrieben worden. Mr.   Perkins las ihn und zuckte unwillig mit den Achseln. Er zeigte ihn Philip. Darin stand zu lesen:
Lieber Mr.   Perkins!
Verzeihen Sie, dass ich Sie noch einmal wegen meines Mündels belästige, aber sowohl seine Tante als auch ich sind seinetwegen besorgt gewesen. Philip möchte unter allen Umständen die Schule verlassen, und seine Tante meint, er fühle sich unglücklich. Es ist für uns schwierig zu entscheiden, was in einem solchen Fall zu tun ist, denn wir sind nicht seine Eltern. Er scheint der Meinung zu sein, dass er es ohnehin nicht schaffen würde, und hält es für Geldverschwendung, länger an der Schule zu bleiben. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mit ihm sprechen könnten, und falls er noch immer derselben Meinung ist, dürfte es das Beste sein, wenn er zu Weihnachten die Schule verlässt, wie ursprünglich beabsichtigt.
Mit vorzüglicher Hochachtung
William Carey
    Philip gab ihm den Brief zurück. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihn. Er war seinen eigenen Weg gegangen, und er war befriedigt. Er hatte seinen Willen gegen den der anderen durchgesetzt.
    »Es nützt nichts, wenn ich mich eine halbe Stunde hinsetze und deinem Onkel schreibe; falls er seine Meinung ändert, bekommt er den nächsten Brief von dir«, sagte der Direktor gereizt.
    Philip sagte nichts, und sein Gesicht war vollkommen ruhig; aber das Funkeln seiner Augen konnte er nicht verhindern. Mr.   Perkins bemerkte es und stieß ein kurzes Lachen aus.
    »Du hast deinen Willen durchgesetzt, nicht wahr?«, sagte er.
    Philip lächelte offen. Er konnte seinen Jubel nicht verbergen.
    »Ist es wahr, dass du darauf brennst, die Schule zu verlassen?«
    »Ja, Sir.«
    »Bist du hier unglücklich?«
    Er hasste instinktiv jeden Versuch, in die Tiefe seiner Gefühle vorzudringen.
    »Ach, ich weiß es nicht.«
    Mr.   Perkins schaute ihn nachdenklich an, während er sich langsam mit den Fingern durch den Bart strich. Es war, als redete er mit sich selbst.
    »Schulen sind natürlich für den Durchschnitt gemacht. Man hat keine Zeit, sich um die Ausnahmen zu kümmern.« Dann plötzlich wandte er sich an Philip. »Ich will dir einen Vorschlag machen. Wir nähern uns dem Ende des Schuljahrs. Weitere drei Monate werden dich nicht umbringen, und wenn du nach Deutschland willst, dann tust du das besser nach Ostern als nach Weihnachten. Im Frühling wird es dort viel hübscher sein als mitten im Winter. Hältst du deinen Entschluss bis dahin aufrecht, dann werde ich dir keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Was sagst du dazu?«
    »Vielen Dank, Sir.«
    Philip war so froh, seinen Willen durchgesetzt zu haben, dass er die zusätzlichen Monate gerne auf sich nehmen wollte. Da er wusste, dass er die Schule vor Ostern für immer los sein würde, empfand er sie nicht mehr so sehr als Gefängnis. Sein Herz hüpfte. An jenem Abend in der Kirche ließ er seinen Blick über die Jungen hinschweifen, die nach Klassen geordnet an ihren Plätzen standen, und schmunzelte vor Genugtuung bei dem Gedanken, dass er sie alle bald nicht mehr würde sehen müssen. Er konnte sie nun mit beinahe freundschaftlichen Gefühlen betrachten. Seine Augen blieben auf Rose haften. Rose nahm seine Stellung als Klassensprecher

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