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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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langweiligen älteren Damen, die ihn manchmal ins Gespräch verwickelten, aufmerksamer zu sein als gewöhnlich. Die sanften Flüche und die harten Ausdrücke, die für unsere Sprache so typisch sind und die er zuvor als Zeichen der Männlichkeit gepflegt hatte, vermied er jetzt sorgfältig.
    Nachdem dies alles zu seiner Zufriedenheit gelöst worden war, versuchte er es zu vergessen, aber das war leichter gesagt als getan. Er konnte nicht verhindern, dass Reue ihn überfiel, und konnte die Furcht nicht unterdrücken, die ihn manchmal quälte. Er war so jung, und hatte so wenig Freunde, dass die Unsterblichkeit für ihn keine besondere Anziehungskraft hatte, und es fiel ihm leicht, den Glauben an sie aufzugeben; trotzdem gab es noch etwas anderes, das ihn unglücklich machte; er sagte sich selbst, dass er unvernünftig sei; er versuchte, sich dieses Gefühls wegen auszulachen; aber Tränen stiegen ihm in die Augen, wenn er daran dachte, dass er niemals wieder die schöne Mutter sehen würde, deren Liebe ihm immer mehr bedeutete, je länger sie tot war. Und manchmal war gleichsam der Einfluss von unzähligen gottesfürchtigen und frommen Ahnen in ihm wirksam – dann packte ihn panische Angst, dass alles wahr wäre und es über dem blauen Himmel einen eifernden Gott gäbe, der den Atheisten im ewigen Feuer strafen werde. Bei solchen Gelegenheiten war ihm sein Verstand keine Hilfe; er stellte sich körperliche Qualen vor, die ewig dauern würden, er fühlte sich krank vor Angst und bekam Schweißausbrüche. Letzten Endes sagte er dann verzweifelt zu sich selbst:
    »Schließlich ist es nicht meine Schuld. Ich kann mich nicht zum Glauben zwingen. Wenn es am Ende einen Gott gibt und Er mich straft, weil ich ehrlich nicht an ihn glaube, kann ich nichts dafür.«
    29
     
    Der Winter begann. Weeks ging nach Berlin, und Hayward hatte vor, sich gen Süden zu wenden. Das Stadttheater öffnete seine Tore. Philip und Hayward besuchten es zwei- oder dreimal wöchentlich in der löblichen Absicht, ihr Deutsch zu verbessern. Philip fand es das kurzweiliger, als einer Predigt zuzuhören. Zu jener Zeit war das Drama in einer Periode des Aufschwunges begriffen. Einige von Ibsens Stücken standen für den Winter auf dem Spielplan. Sudermanns Ehre war eben herausgekommen und erregte bei ihrer Aufführung in der stillen Universitätsstadt das größte Aufsehen; das Stück wurde überschwenglich gelobt und erbittert angegriffen; andere Dramatiker folgten mit modernen Stücken, und Philip wohnte einer Reihe von Aufführungen bei, in denen die Schlechtigkeit der Menschheit aufgezeigt wurde. Er war nie zuvor im Theater gewesen (hie und da war eine armselige Schauspielertruppe nach Blackstable gekommen, aber der Vikar hatte teils seines Berufes wegen, teils weil es ihm unvornehm schien, nie eine Vorstellung besucht), und nun packte ihn die Theaterleidenschaft. Ein Schauder ergriff ihn, sobald er das kleine, schäbige, schlecht beleuchtete Theater betrat. Bald lernte er die Besonderheiten des Ensembles kennen und konnte schon anhand der Besetzung die charakteristischen Merkmale der handelnden Personen erraten; aber dies störte ihn nicht. Was er sah, war für ihn wirkliches Leben. Ein seltsames, dunkles, gequältes Leben, in dem Männer und Frauen vor mitleidlosen Augen das Böse in ihren Herzen enthüllten: Ein liebliches Gesicht konnte eine verdorbene Seele verbergen; die Tugendhaften benützten die Tugend als Maske, hinter der sich geheime Laster versteckten; die scheinbar Starken zerbrachen an ihrer Schwäche; die Ehrlichen waren korrupt, die Keuschen verderbt. Es war, als weile man in einem Zimmer, in dem in der vorangegangenen Nacht eine Orgie stattgefunden hatte. Die Fenster sind noch nicht geöffnet worden; die Luft ist faul von Bierdunst und kaltem Rauch. In diesen Stücken gab es kein Lachen. Man verzog höchstens spöttisch den Mund über einen Heuchler oder einen Narren; die Personen drückten sich in grausamen Worten aus, die aus Angst und Scham ihrem Herzen abgerungen schienen.
    Philip wurde mitgerissen von der vor keiner Hässlichkeit zurückschreckenden Intensität dieser Werke. Es war ihm, als sähe er eine neue Welt, und auch diese wollte er kennenlernen. Wenn die Aufführung vorüber war, ging er mit Hayward hinüber in ein kleines Gasthaus und saß mit ihm bei einem belegten Brot und einem Glas Bier. Rings um sie saßen kleine lachende und plaudernde Gruppen von Studenten und ab und an eine Familie mit ihren Söhnen und der

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