Der Menschen Hoerigkeit
wäre er in Süddeutschland geboren worden. Er hätte genauso gut in einem katholischen Land zur Welt kommen können wie in England; und in England wiederum sowohl in einer Wesleyaner-, Baptisten- oder Methodisten-Familie wie in einer, die glücklicherweise der Staatskirche angehörte. Es wurde ihm ganz unheimlich zumute bei dem Gedanken, welcher Gefahr er entronnen war. Philip stand auf freundschaftlichem Fuß mit dem kleinen Chinesen, der zweimal täglich mit ihm bei Tisch saß. Er hieß Sung. Er war immer heiter, freundlich und höflich. Es schien befremdlich, dass er in der Hölle braten sollte, bloß weil er Chinese war; wenn aber jedermann des Heiles teilhaftig werden konnte, egal welchen Glaubens, dann war es offenbar gar nicht so wichtig, der Kirche von England anzugehören.
Philip, verwirrter als je im Leben, wandte sich an Weeks. Dabei musste er vorsichtig vorgehen, denn er fürchtete, der andere würde ihn lächerlich finden; und der scharfe Humor, den der Amerikaner gegenüber der Kirche von England an den Tag legte, missfiel ihm. Aber Weeks bestärkte ihn bloß in seinem Zweifel. Jawohl, die Süddeutschen, die Philip in der Jesuitenkirche sah, waren ebenso überzeugt von der Richtigkeit ihres Bekenntnisses wie er von dem seinen, und ebenso waren auch Mohammedaner und Buddhisten von der Wahrheit ihrer Religion durchdrungen. Es sah aus, als würde die eigene Überzeugung nichts bedeuten; alle waren sie von der Richtigkeit ihres Glaubens überzeugt. Weeks hatte nicht die Absicht, Philips Glauben zu untergraben, aber er interessierte sich brennend für religiöse Fragen und konnte sich von dem Thema nicht losreißen. Er hatte seine eigenen Ansichten genau wiedergegeben, als er sagte, dass er sehr ernsthaft alles bezweifelte, was andere Leute glaubten. Philip richtete einmal eine Frage an ihn, die er seinen Onkel hatte stellen hören, als bei einer Unterhaltung im Pfarrhaus die Sprache auf ein rationalistisches Werk gekommen war, das Anlass für eine hitzige Diskussion in den Zeitungen gegeben hatte.
»Aber warum soll ich annehmen, dass Sie recht haben und Menschen wie der heilige Augustinus oder der heilige Anselm unrecht?«
»Sie meinen, weil das – im Gegensatz zu mir – weise und gelehrte Männer waren?«, fragte Weeks.
»Ja«, antwortete Philip unsicher, denn in dieser Auslegung erschien ihm seine Frage unverschämt.
»Der heilige Augustinus glaubte, dass die Erde flach sei und die Sonne sich um sie drehe.«
»Ich verstehe nicht, was das beweisen soll.«
»Das soll beweisen, dass man mit seiner Generation glaubt. Diese Heiligen lebten in einem Glaubenszeitalter, in dem es einfach unmöglich war, nicht zu glauben, was uns heute vollkommen unglaubwürdig erscheint.«
»Und wieso wissen Sie, dass das, was wir jetzt glauben, die Wahrheit ist?«
»Das habe ich nie behauptet.«
Philip dachte einen Augenblick lang darüber nach und sagte dann:
»Ich sehe nicht ein, warum die Dinge, an die wir jetzt mit Überzeugung glauben, nicht genauso verkehrt sein sollten wie die, an die in der Vergangenheit geglaubt wurde.«
»Ich sehe das auch nicht ein.«
»Wie können Sie dann überhaupt noch an etwas glauben?«
»Ich weiß nicht.«
Philip fragte Weeks, was er von Haywards Religion halte.
»Die Menschen haben Gott immer nach ihrem eigenen Bild geformt«, sagte Weeks. »Er glaubt an das Pittoreske.«
Philip schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Ich sehe nicht ein, warum man überhaupt an Gott glauben soll.«
Die Worte waren kaum seinem Munde entschlüpft, als ihm klar wurde, dass er bereits aufgehört hatte zu glauben. Die Erkenntnis raubte ihm den Atem wie ein Sprung in kaltes Wasser. Er blickte Weeks mit erschrockenen Augen an. Plötzlich bekam er Angst. Er verließ Weeks so schnell wie möglich. Er wollte allein sein. Es war das aufwühlendste Erlebnis, das ihm je zuteil geworden war. Er bemühte sich, alles genau zu durchdenken; was er nun beschloss, so fühlte er, war zutiefst bestimmend für sein ganzes Leben, und ein Irrtum konnte zu ewiger Verdammnis führen; aber je mehr er darüber nachdachte, umso überzeugter wurde er; und obgleich er in den nächsten Wochen mit glühendem Interesse Bücher las, die seinem Skeptizismus nachhalfen, war ihm klar, dass sie nur bestätigten, was er schon wusste. Tatsache war, dass er nicht aus einem bestimmten Grund aufgehört hatte zu glauben, sondern weil es ihm an Frömmigkeit fehlte. Der Glaube war ihm nur von außen aufgezwungen worden. Die Umgebung und
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