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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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das Beispiel spielten die entscheidende Rolle. Eine neue Umgebung und ein neues Beispiel gaben Philip die Gelegenheit, zu sich selbst zu finden. Er legte den Glauben seiner Kindheit ab wie einen Mantel, den er nicht mehr brauchte. Anfangs schien ihm das Leben ungewohnt und einsam ohne diesen Glauben, der ihm, ohne dass er es gewusst hatte, eine nie versagende Stütze gewesen war. Er fühlte sich wie ein Mensch, der gewohnt war, sich auf einen Stock zu stützen, und sich plötzlich gezwungen sieht, ohne Hilfe zu gehen. Die Tage erschienen ihm kälter, die Nächte einsamer. Aber seine innere Erregung hielt ihn aufrecht; das Leben wurde ihm zum spannenden Abenteuer. Und nach einer Weile sah er den Stock, den er beiseitegeworfen, und den Mantel, den er fallen gelassen hatte, als eine unerträgliche Last an, die er nun endlich abgelegt hatte. Die religiösen Übungen, die ihm so viele Jahre hindurch aufgezwungen worden waren, gehörten für ihn wesentlich zur Religion. Er dachte an die Kollekten und Episteln, die er hatte auswendig lernen müssen, und an die langen Gottesdienste in der Kathedrale, während derer sich jede Faser seines Körpers nach Bewegung gesehnt hatte; er erinnerte sich an die nächtlichen Wanderungen auf schlammigen Straßen zur Pfarrkirche von Blackstable und an die Kälte jenes düsteren Bauwerks; er saß da mit eiskalten Füßen und starren Fingern, und die Luft um ihn war mit dem süßlichen Geschmack von Pomade erfüllt. Oh, wie hatte er sich gelangweilt! Sein Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass er von all dem nun befreit sein würde.
    Er wunderte sich über sich selbst, dass er so leicht zu glauben aufgehört hatte. Da er nicht wusste, dass seine Empfindungen von den subtilen Mechanismen seiner innersten Natur herrührten, schrieb er die neuentstandene Gewissheit seiner eigenen Klugheit zu. Er war über die Maßen mit sich zufrieden. Mit der Unduldsamkeit der Jugend gegen alles, was nicht mit dem eigenen Standpunkt übereinstimmt, verachtete er Weeks und Hayward, weil sie an dem vagen Gefühlswert, den sie Gott nannten, festhielten und nicht auch den weiteren Schritt wagten, der für ihn so selbstverständlich war. Eines Tages wanderte er allein auf einen Berg, um eine Aussicht zu genießen, die ihn, er wusste nicht warum, stets mit überwältigendem Entzücken erfüllte. Es war nun schon Herbst, aber oft waren die Tage noch wolkenlos, und der Himmel leuchtete tiefer und strahlender denn je: Als ob die Natur den verbleibenden Schönwettertagen mit Absicht eine größere Intensität verlieh. Er blickte hinunter auf die Ebene, die sich im Sonnenschein flimmernd vor ihm ausbreitete: In der Ferne sah man die Dächer von Mannheim und weit, weit draußen die Umrisse von Worms. Hier und dort leuchtete in einem kräftigeren Glitzern der Rhein auf. Die ungeheure Weite war in goldenes Licht getaucht. Unwillkürlich musste er daran denken, wie der Versucher mit Jesus auf einem hohen Berg gestanden war und ihm die Königreiche der Erde gezeigt hatte. Philips Herz klopfte vor Freude. Berauscht von der Schönheit der Landschaft, meinte er die ganze Welt vor sich liegen zu sehen und konnte es kaum erwarten, hinunterzusteigen und sie zu genießen. Er war befreit von entwürdigenden Ängsten, befreit von Vorurteilen. Er konnte seinen Weg gehen ohne die unerträgliche Furcht vor dem Feuer der Hölle. Mit einem Mal erkannte er, dass ihm auch die Bürde der Verantwortung genommen war, die jeder Handlung seines Lebens folgenschwere Bedeutung gegeben hatte. Er atmete freier, er atmete leichtere Luft. Er war nur sich selbst Rechenschaft schuldig für das, was er tat. Freiheit! Endlich war er sein eigener Herr! Aus alter Gewohnheit, unbewusst, dankte er Gott dafür, dass er nicht mehr an Ihn glaubte.
    Trunken vor Stolz auf seine Intelligenz und Furchtlosigkeit, begann Philip bewusst sein neues Leben. Aber der Verlust des Glaubens zog weniger Änderungen in seinem Verhalten nach sich, als er erwartet hatte. Obwohl er die christlichen Dogmen über Bord geworfen hatte, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, die christliche Ethik zu kritisieren; er erkannte die christlichen Tugenden an und hielt es für durchaus schön, sich um ihrer selbst willen in ihnen zu üben, ohne einen Gedanken an Belohnung oder an Bestrafung zu verschwenden. Es gab wenig Gelegenheit für Heldentum im Haus der Frau Professor, aber er nahm es mit der Ehrlichkeit ein klein wenig genauer als zuvor und zwang sich, gegenüber den

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