Der Menschen Hoerigkeit
erblickt. Er hatte sich nichts dabei gedacht; aber eines Abends auf dem Heimweg, als es schon dunkel war, hatte er zwei Menschen überholt, die sehr nahe aneinandergeschmiegt vor ihm gegangen waren. Als sie Schritte hörten, waren sie rasch auseinandergefahren, und obgleich er in der Dunkelheit nicht deutlich sehen konnte, hätte er schwören können, dass es Cäcilie und Sung gewesen waren. Ihre schnelle Bewegung ließ darauf schließen, dass sie Arm in Arm gegangen waren. Philip war verwirrt und überrascht. Er hatte Fräulein Cäcilie nie besonders beachtet. Sie war kein besonders hübsches Mädchen, mit einem breiten Gesicht und groben Zügen. Sie konnte nicht viel älter sein als sechzehn Jahre, da sie ihre langen blonden Haare noch in einem Zopf über den Rücken baumeln ließ. An jenem Abend bei Tisch sah er sie neugierig an, und obwohl sie in letzter Zeit bei den Mahlzeiten wenig gesprochen hatte, wandte sie sich jetzt an ihn.
»Was für einen Spaziergang haben Sie heute Abend gemacht, Herr Carey?«, fragte sie unvermittelt.
»Ach, ich bin Richtung Königstuhl hinaufgegangen.«
»Ich war heute gar nicht aus«, warf sie hin. »Ich hatte Kopfschmerzen.«
»Das tut mir aber leid«, meinte der Chinese, der neben ihr saß, »hoffentlich geht es Ihnen schon besser.«
Fräulein Cäcilie war offenbar sehr unruhig; denn wieder wandte sie sich an Philip.
»Sind Ihnen unterwegs viele Menschen begegnet?«
Philip errötete unwillkürlich, als er mit einer glatten Lüge antwortete.
»Nein, keine Menschenseele, glaube ich.«
Er vermeinte einen Blitz der Erleichterung in ihren Augen zu sehen.
Bald jedoch konnte es keinen Zweifel mehr geben, dass zwischen den beiden etwas war. Immer häufiger traf man sie miteinander an entlegenen Orten. Die ältlichen Damen am oberen Ende des Tisches fingen an, über die Sache zu reden. Frau Professor Erlin war aufgebracht und beunruhigt. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, nichts zu sehen. Der Winter stand vor der Tür, und es war nicht so leicht, Gäste zu finden; Herr Sung war ein guter Gast. Er hatte zwei Zimmer im Erdgeschoss und trank zu jeder Mahlzeit eine Flasche Moselwein. Die Frau Professor berechnete sie ihm mit drei Mark pro Flasche und verdiente dabei nicht schlecht. Keiner von ihren anderen Gästen trank Wein, und manche tranken nicht einmal Bier. Ebenso wenig wollte sie Fräulein Cäcilie verlieren, deren Eltern sich auf einer Geschäftsreise in Südamerika befanden und die mütterliche Fürsorge der Frau Professor gut bezahlten; ein Onkel des Mädchens lebte in Berlin. Schrieb sie an ihn, so würde Cäcilie unverzüglich von Heidelberg weggeholt werden. Die Frau Professor begnügte sich damit, den beiden bei Tisch strenge Blicke zuzuwerfen und Cäcilie möglichst schlecht zu behandeln; dem Chinesen gegenüber wagte sie keine Unhöflichkeit. Aber die drei älteren Damen hielten das für unzureichend. Zwei von ihnen waren Witwen, und eine, eine Holländerin, war eine alte Jungfer von männlichem Aussehen; sie bezahlten den kleinstmöglichen Preis und machten ziemlich viel Mühe, aber sie waren Stammgäste, und daher musste man sich damit abfinden. Sie traten auf Frau Professor zu und erklärten ihr, dass etwas geschehen müsse; es wäre eine Schande, und in einem anständigen Haus dürfe so etwas nicht geduldet werden. Die Frau Professor versuchte es mit Halsstarrigkeit, Tränen und Unwillen, aber die alten Damen ließen nicht locker, bis sie sich schließlich schweren Herzens entschließen musste zu handeln.
Nach dem Mittagessen nahm sie Cäcilie mit in ihr Zimmer und fing an, ihr ernst ins Gewissen zu reden. Aber zu ihrem Erstaunen nahm das Mädchen eine unverfrorene Haltung an: Sie könne tun, was ihr beliebe, und wenn es ihr Spaß mache, mit dem Chinesen spazieren zu gehen, so sei das ihre eigene Sache. Die Frau Professor drohte, an ihren Onkel zu schreiben.
»Gut, dann steckt mich Onkel Heinrich über den Winter zu einer Familie nach Berlin, das kann mir nur recht sein. Herr Sung kommt dann auch nach Berlin.«
Die Frau Professor fing zu weinen an. Die Tränen rollten ihr über die dicken roten Wangen. Cäcilie lachte sie aus.
»Das bedeutet: drei leere Zimmer während des ganzen Winters«, sagte sie.
Nun versuchte es die Frau Professor auf andere Weise. Sie appellierte an Cäcilies besseres Ich: Sie war gütig und verständnisvoll zu ihr; sie behandelte sie nicht mehr wie ein Kind, sondern wie eine erwachsene Frau. Das Ganze wäre ja nicht so schrecklich,
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