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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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hättest, wärst du nicht so grausam zu mir«, flüsterte er.
    »Ach, ist es nicht schön, wie es ist? Die Männer sind alle gleich, niemals zufrieden.«
    Und wenn er sie weiter bedrängte:
    »Siehst du denn nicht, dass es unmöglich ist. Hier?«
    Er fand immer neue Vorschläge, aber sie wollte von keinem etwas hören.
    »Ich wage es einfach nicht. Es wäre zu schrecklich, wenn deine Tante es entdecken würde.«
    Ein, zwei Tage später hatte er eine Idee, die ihm glänzend schien.
    »Könntest du nicht an einem Sonntagabend Kopfschmerzen vortäuschen und anbieten, zu Hause zu bleiben und nach dem Rechten zu sehn? Dann würde Tante Louisa in die Kirche gehen.«
    Gewöhnlich blieb Mrs.   Carey am Sonntagabend zu Hause, um Mary Ann die Möglichkeit zu geben, die Kirche zu besuchen. Aber sie würde mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, einem Abendgottesdienst beizuwohnen.
    Philip hatte es nicht für nötig gehalten, seinen Angehörigen die Veränderung seiner Ansichten über Christentum und Religion mitzuteilen, die sich in Deutschland in ihm vollzogen hatte; sie würden es nicht verstehen; er fand es bequemer, ruhig in die Kirche zu gehen. Aber er ging nur morgens. Er betrachtete dies als ein gnädiges Zugeständnis an die Vorurteile der Gesellschaft, und seine Weigerung, ein zweites Mal zu gehen, als hinreichende Manifestation seiner Geistesfreiheit.
    Nachdem er seinen Vorschlag geäußert hatte, schwieg Miss Wilkinson einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf.
    »Nein, das kann ich nicht tun«, sagte sie.
    Aber am Sonntag, beim Tee, überraschte sie Philip.
    »Ich glaube, ich werde heute Abend nicht in die Kirche gehen«, sagte sie plötzlich. »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«
    Mrs.   Carey gab ihr sehr besorgt von den Tropfen, die sie selbst in solchen Fällen zu nehmen pflegte. Miss Wilkinson dankte ihr und erklärte sofort nach dem Tee, dass sie in ihr Zimmer gehen und sich hinlegen wolle.
    »Werden Sie auch nichts brauchen?«, fragte Mrs.   Carey ängstlich.
    »Nein, bestimmt nicht.«
    »Dann werde ich vielleicht heute Abend in die Kirche gehen. Ich habe so selten Gelegenheit, den Abendgottesdienst zu besuchen.«
    »Aber natürlich, gehen Sie nur.«
    »Ich werde ja zu Hause sein«, sagte Philip. »Wenn Miss Wilkinson etwas braucht, kann sie mich jederzeit rufen.«
    »Du lässt am besten die Tür zum Empfangszimmer offen, damit du hörst, wenn Miss Wilkinson klingelt.«
    »Gern«, sagte Philip.
    So wurde Philip kurz nach sechs Uhr mit Miss Wilkinson allein im Hause zurückgelassen. Ihm war übel vor Beklommenheit. Von ganzem Herzen wünschte er, diesen Vorschlag nie gemacht zu haben; aber nun war es zu spät; er musste die Gelegenheit wahrnehmen, die er sich selbst geschaffen hatte. Was sollte Miss Wilkinson sonst von ihm denken! Er ging in den Vorraum und lauschte. Kein Laut war zu hören. Der Gedanke kam ihm, dass Miss Wilkinson vielleicht wirklich Kopfschmerzen hatte, vielleicht hatte sie seinen Vorschlag auch vergessen. Sein Herz schlug fast schmerzhaft. Er schlich, so leise er konnte, die Treppe hinauf und hielt erschrocken inne, als die Dielen knarrten. Er stand vor Miss Wilkinsons Zimmer und horchte. Er legte seine Hand auf die Klinke. Er wartete. Er wartete fast fünf Minuten und musste alle Kraft zusammennehmen, um sich jäh zu einem Entschluss durchzuringen. Seine Hand zitterte. Zu gerne wäre er davongeschlichen, aber er wusste, dass ihn dann später die Reue überkommen würde. Es war, wie wenn man in einem Schwimmbad auf das höchste Sprungbrett hinaufsteigt; von unten sieht es nach gar nichts aus, aber wenn man oben steht und auf die Wasserfläche hinunterschaut, dann bekommt man es mit der Angst zu tun, und das Einzige, was einen zwingt, den Sprung zu wagen, ist die Scheu vor der Schmach, kläglich die Treppen hinuntersteigen zu müssen. Philip nahm seinen Mut zusammen. Leise drückte er die Klinke nieder und trat ins Zimmer. Er zitterte wie ein Blatt.
    Miss Wilkinson stand am Toilettentisch, mit dem Rücken zur Tür, und wandte sich rasch um, als sie ihn eintreten hörte.
    »Oh, du bist es! Was willst du?«
    Sie hatte Rock und Bluse abgelegt und stand im Unterrock da. Er war kurz und reichte ihr nur bis zum Stiefelrand; der obere Teil war aus schwarzem glänzendem Stoff, und unten, um den Rand, lief ein breiter roter Volant. Sie trug ein Unterleibchen aus weißem Kattun mit kurzen Ärmeln. Sie sah grotesk aus. Philips Herz sank, als er sie anstarrte. Nie war sie ihm so hässlich

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