Der Menschen Hoerigkeit
wusste nicht genau, was er nun sagen sollte. Hier, endlich, bot sich ihm die Gelegenheit zu einem Abenteuer, und er war ein Narr, wenn er sie nicht nutzte. Aber das Ganze schien ihm ein wenig gewöhnlich; er hatte es sich berauschender vorgestellt. Er hatte viel über die Liebe gelesen und fühlte in sich nichts von dem Rausch der Gefühle, den die Schriftsteller schilderten; er wartete vergebens darauf, von den Wogen der Leidenschaft erfasst und mitgerissen zu werden; ebenso wenig entsprach Miss Wilkinson dem Ideal, das er sich erträumt hatte; er hatte sich häufig die großen, veilchenblauen Augen und die Alabasterwangen eines bezaubernden jungen Mädchens vorgestellt und sich ausgemalt, wie er sein Gesicht in den lockigen Wellen ihres hellbraunen Haares vergraben würde. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Gesicht in Miss Wilkinsons Haar zu vergraben. Es kam ihm immer ein wenig fettig vor. Trotzdem: Es würde eine große Genugtuung für ihn sein, eine Liebesbeziehung zu haben, und er fühlte im Voraus den Stolz, mit dem ihn seine Eroberung erfüllen würde. Er war es sich selbst schuldig, Miss Wilkinson zu verführen; er beschloss, sie zu küssen; nicht gleich, aber am Abend; im Dunkeln würde es leichter sein, und nachdem er sie geküsst hatte, würde sich das Übrige von selbst ergeben. Er wollte sie noch am gleichen Abend küssen. Er schwor es sich.
Er legte sich seinen Plan zurecht. Nach dem Abendessen schlug er einen Spaziergang durch den Garten vor. Miss Wilkinson willigte ein, und sie schlenderten Seite an Seite einher. Philip war sehr nervös. Das Gespräch wollte nicht in die richtigen Bahnen kommen; er hatte sich vorgenommen, zur Einleitung den Arm um ihre Hüften zu legen; aber er konnte unmöglich plötzlich den Arm um ihre Hüften legen, wenn sie von einer Regatta sprach, die in der nächsten Woche stattfinden sollte. Listig führte er sie in die dunkelsten Teile des Gartens, aber dort angelangt, verlor er den Mut. Sie setzten sich auf eine Bank, und er hatte sich gerade gesagt, dass nun der richtige Moment gekommen wäre, als Miss Wilkinson erklärte, hier gäbe es bestimmt Ohrwürmer, und darauf bestand weiterzugehen. Sie gingen noch einmal um den Garten herum, und Philip nahm sich vor, es zu wagen, ehe sie zu der Bank zurückgelangten; aber als sie am Haus vorbeikamen, sahen sie Mrs. Carey in der Tür stehen.
»Solltet ihr jungen Leute nicht lieber hereinkommen? Die Nachtluft kann euch unmöglich guttun.«
»Vielleicht ist es wirklich besser, wir gehen hinein«, sagte Philip. »Ich möchte nicht, dass Sie sich erkälten.«
Er sagte es mit einem Seufzer der Erleichterung. An diesem Abend brauchte er nun nichts mehr zu unternehmen. Aber später, als er allein in seinem Zimmer saß, wurde er wütend über sich selbst. Er war ein Esel gewesen. Bestimmt hatte Miss Wilkinson erwartet, dass er sie küssen würde, sonst wäre sie nicht mit in den Garten gekommen. Sie sagte immer, nur Franzosen wüssten, wie man Frauen behandelt. Philip hatte französische Romane gelesen. Wäre er ein Franzose, so hätte er sie in die Arme geschlossen und ihr leidenschaftlich zugeflüstert, dass er sie anbete; er hätte die Lippen auf ihre nuque gepresst. Er wusste nicht, warum Franzosen ihre Auserkorenen immer auf die nuque küssten. Er selbst fand nichts so äußerst Attraktives am Ansatz des Nackens. Freilich war es für Franzosen viel leichter, all diese Dinge zu tun; die Sprache kam ihnen sehr zu Hilfe; auf Englisch leidenschaftliche Erklärungen von sich zu geben schien Philip ein wenig abgeschmackt. Er wünschte nun inständig, doch nie die Belagerung von Miss Wilkinsons Tugend auf sich genommen zu haben; die ersten vierzehn Tage waren so nett gewesen, und jetzt war er unglücklich; aber er war entschlossen, nicht nachzugeben – sonst musste er jede Selbstachtung verlieren –, und nahm sich unwiderruflich vor, Miss Wilkinson am nächsten Abend zu küssen, koste es, was es wolle.
Als er am nächsten Tag erwachte, sah er, dass es regnete; und sein erster Gedanke war, dass man abends nicht in den Garten gehen könnte. Beim Frühstück war er glänzender Laune. Miss Wilkinson ließ durch Mary Ann sagen, dass sie Kopfschmerzen habe und im Bett bleibe. Sie kam erst am Nachmittag um die Teestunde wieder herunter, mit einem blassen Gesicht und einem Morgenrock, der ihr sehr gut stand; aber bis zum Abendbrot hatte sie sich vollkommen erholt, und die Mahlzeit war sehr heiter. Nach dem Gebet erklärte sie, dass
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