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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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erschienen; aber nun war es zu spät. Er schloss die Tür hinter sich und sperrte ab.
    35
     
    Philip erwachte früh am nächsten Morgen. Sein Schlaf war unruhig gewesen; aber als er die Glieder dehnte und die Sonnenstrahlen sah, die durch die Jalousien drangen und Muster auf den Fußboden zeichneten, seufzte er vor Befriedigung. Er war entzückt über sich selbst. Er begann, an Miss Wilkinson zu denken. Sie hatte ihn gebeten, sie Emily zu nennen, aber das wollte ihm nicht recht über die Lippen; er dachte immer an sie als Miss Wilkinson. Seit sie ihn schalt, weil er sie so nannte, vermied er überhaupt, sie mit ihrem Namen anzureden. In seiner Kindheit wurde oft von einer Schwester Tante Louisas, der Witwe eines Marineoffiziers, als Tante Emily gesprochen. Es war ihm unangenehm, Miss Wilkinson bei diesem Namen zu nennen, aber er konnte sich auch keinen vorstellen, der besser zu ihr gepasst hätte. Er hatte sie als Miss Wilkinson kennengelernt, und dabei blieb es. Er runzelte die Stirn. Beim besten Willen wollte es ihm nicht gelingen, sie in einem halbwegs günstigen Licht zu sehen; er konnte nicht vergessen, wie sie in ihrem weißen Leibchen und dem kurzen Unterrock dagestanden hatte; er erinnerte sich der leichten Rauheit ihrer Haut und der scharfen, langen Falten an der Seite ihres Halses. Sein Triumphgefühl hielt nicht stand. Er rechnete abermals ihr Alter nach und kam zu dem Ergebnis, dass sie unmöglich jünger als vierzig Jahre alt sein konnte. Das ließ die Sache lächerlich erscheinen. Sie war hässlich und alt. Seine lebendige Phantasie zeigte sie ihm verrunzelt, hager, geschminkt, in Kleidern, zu auffällig für ihre Stellung und zu jugendlich für ihr Alter. Er schauderte; mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass er sie nie mehr wiedersehen wollte; der Gedanke, sie zu küssen, war ihm unerträglich. Er war entsetzt über sich. War das Liebe?
    Er kleidete sich an, so langsam er konnte, um den Augenblick der Begegnung möglichst lange hinauszuzögern. Als er beklommenen Herzens das Speisezimmer betrat, war das Morgengebet bereits gesprochen, und man war im Begriff, sich an den Frühstückstisch zu setzen.
    »Schlafmütze«, rief Miss Wilkinson fröhlich.

Er schaute sie an und seufzte erleichtert auf. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster und sah wirklich ganz nett aus. Er konnte sich gar nicht erklären, warum er so hässliche Dinge über sie gedacht hatte. Sein Siegesstolz kehrte zurück.
    Er war betroffen über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Gleich nach dem Frühstück erklärte sie ihm mit vor Bewegung bebender Stimme, dass sie ihn liebe, und als sie später im Salon miteinander musizierten, hob sie mitten in einer Tonleiter das Gesicht zu ihm auf und sagte:
    »Embrasse-moi!«
    Als er sich niederbeugte, warf sie die Arme um seinen Hals. Es war ziemlich unbequem, denn sie hielt ihn so, dass er kaum Luft bekam.
    »Ah, je t’aime. Je t’aime«, rief sie mit ihrem übertriebenen französischen Akzent.
    ›Wenn sie doch lieber Englisch sprechen würde‹, dachte Philip.
    »Meinst du nicht, dass der Gärtner jeden Moment am Fenster vorbeikommen kann?«
    »Ah, je m’en fiche du jardinier. Je m’en fiche, je m’en refiche, et je m’en contrefiche.«
    Philip fand es ganz wie in einem französischen Roman und begriff nicht, warum er sich nicht glücklicher dabei fühlte.
    Endlich sagte er:
    »Jetzt gehe ich mal hinunter an den Strand und bade.«
    »Was, heute willst du mich allein lassen – ausgerechnet heute?«
    Philip sah die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens zwar nicht ein, aber er wollte nicht darauf beharren.
    »Wenn du willst, bleibe ich auch zu Hause«, sagte er lächelnd.
    »Ach, du Lieber! Nein, nein, geh nur! Ich werde dich in Gedanken begleiten, wie du die salzigen Wellen bezwingst und im weiten Ozean badest.«
    Er nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg.
    ›Was für einen Unsinn Frauen zusammenreden!‹, dachte er bei sich.
    Aber er war froh und geschmeichelt. Offenbar war sie völlig in ihn verschossen. Während er zum Strand humpelte, betrachtete er die Leute, die ihm begegneten, mit einer gewissen Überlegenheit. Fast alle waren sie ihm bekannt, und während er ihnen zunickte, musste er unwillkürlich denken: ›Wenn die wüssten!‹ Sehnlichst wünschte er sich jemanden herbei, dem er sich mitteilen konnte. Er nahm sich vor, an Hayward zu schreiben, und setzte im Geist den Brief auf. Vom Garten würde er ihm erzählen und von den Rosen und von der kleinen

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