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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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schlug schneller, als Du in Deiner köstlichen Einfachheit erzähltest, dass Du Dein Gesicht in ihrem langen Haar vergräbst. Ich könnte schwören, dass es von jenem wunderbaren Kastanienbraun ist, das von Gold überhaucht scheint. Unter einem dichtbelaubten Baum, Seite an Seite, müsstet Ihr sitzen und miteinander ›Romeo und Julia‹ lesen; und dann solltest Du auf die Knie sinken und für mich den Boden küssen, auf dem ihr Fuß geruht. Dies ist die Huldigung, sollst Du ihr sagen, die der Dichter ihrer strahlenden Jugend und Eurer Liebe darbringt.
Immer Dein
G. Etheridge Hayward
    »Verdammter Unsinn!«, rief Philip aus, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. Merkwürdigerweise hatte Miss Wilkinson vorgeschlagen, dass sie miteinander Romeo und Julia lesen sollten; aber Philip hatte entschieden abgelehnt. Dann, als er den Brief in die Tasche steckte, fühlte er ein seltsam bitteres Gefühl im Herzen, weil die Wirklichkeit so anders war als das Ideal.
    36
     
    Ein paar Tage später fuhr Philip nach London. Der Kurat hatte ihm zwei Zimmer in der Nähe der City empfohlen, und er hatte sie schriftlich für vierzehn Shilling wöchentlich gemietet. Er kam abends in seiner neuen Wohnung an. Seine Wirtin, ein komisches altes Weiblein mit einem verhutzelten Körper und vielen Runzeln im Gesicht, hatte das Abendbrot für ihn vorbereitet. Der Großteil des Wohnzimmers wurde von einem Büffet und einem viereckigen Tisch eingenommen, an einer Wand stand ein mit Rosshaarstoff überzogenes Sofa und neben dem Kamin ein passender Lehnstuhl: Über die Lehne war ein weißer Überhang gelegt und über den Sitz ein hartes Kissen, weil die Sprungfedern zerbrochen waren.
    Nachdem sich Philip gestärkt hatte, packte er aus und stellte seine Bücher auf, dann setzte er sich hin und versuchte zu lesen; aber er war niedergeschlagen. Die Stille auf der Straße bedrückte ihn, und er fühlte sich sehr allein.
    Am nächsten Tage stand er früh auf. Er zog seinen Frack an und setzte den hohen Hut auf, den er in der Schule getragen hatte, der aber schon so schäbig war, dass er sich entschloss, auf seinem Weg ins Büro einen neuen zu kaufen. Nachdem er das gemacht hatte, sah er, dass noch Zeit übrig war, und er spazierte am Ufer der Themse entlang. Das Büro von Messrs. Herbert Carter & Co. lag in einer Seitenstraße der Chancery Lane, und er musste wiederholt nach dem Weg fragen. Er hatte das Gefühl, dass alle Leute ihn anstarrten, und blieb stehen, um zu prüfen, ob das Schild an seinem Hut zu sehen war. Endlich stand er vor der Tür des Büros und klopfte an. Niemand reagierte, und als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es gerade erst halb neun war. Wahrscheinlich war er zu früh. Er entfernte sich, und als er zehn Minuten später zurückkehrte, öffnete ihm ein Bursche mit einer langen Nase, Pickeln im Gesicht und einem schottischen Akzent. Philip fragte nach Mr.   Herbert Carter. Er war noch nicht eingetroffen.
    »Wann wird er hier sein?«
    »Zwischen zehn und halb elf.«
    »Dann warte ich besser.«
    »Was wünschen Sie?«, fragte der Bursche.
    Philip wurde nervös, versuchte dies jedoch hinter einer unbekümmerten Pose zu verbergen.
    »Ich werde hier arbeiten, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Oh, dann sind Sie der neue Lehrling! Kommen Sie herein. Mr. Goodworthy wird nicht lange auf sich warten lassen.«
    Philip trat ein und bemerkte dabei, dass der Bursche – er war etwa so alt wie Philip – auf seinen Fuß blickte. Er errötete, setzte sich und versteckte ihn hinter dem anderen. Er sah sich um: ein dunkles, sehr schäbiges Zimmer, das von einem kleinen Oberlicht erhellt wurde. Drei Reihen von Pulten mit hohen Kontorstühlen standen darin. Über dem Kamin hing ein schmutziger Stich, der einen Boxkampf darstellte. Nach einer Weile kam ein Angestellter herein und dann wieder einer; sie schauten Philip an und erkundigten sich leise bei dem Laufburschen (Philip fand heraus, dass er Macdougal hieß), wer er sei. Dann ertönte ein Pfiff, und Macdougal stand auf.
    »Mr.   Goodworthy ist gekommen; er ist der Geschäftsführer. Soll ich ihm sagen, dass Sie hier sind?«
    »Ja, bitte«, sagte Philip.
    Der Bursche ging hinaus und war gleich wieder zurück.
    »Bitte, kommen Sie mit.«
    Philip folgte ihm durch einen Korridor und wurde in ein Zimmer geführt, klein und spärlich möbliert, in dem ein Mann mit dem Rücken zum Kamin stand. Er war sehr klein, aber sein großer Kopf, der aussah, als wäre er auf seinen Körper aufgesetzt,

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