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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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wunderbaren Zartheit, die französische Männer an den Tag legten, wenn sie in dem gleichen Verhältnis zu einer Dame standen wie er zur ihr. Sie pries ihre Zuvorkommenheit, ihre Leidenschaft und Selbstaufopferung, ihr vollendetes Taktgefühl. Miss Wilkinson verlangte eine ganze Menge.
    Philip hörte sich ihre Beschreibung des vollkommenen Liebhabers an und konnte nicht umhin, sich glücklich zu schätzen, dass sie in Berlin lebte.
    »Du wirst mir schreiben, ja? Schreib mir jeden Tag! Ich will alles von dir wissen, alles, was du tust! Du darfst mir nichts vorenthalten!«
    »Ich werde furchtbar viel zu tun haben«, antwortete er. »Aber ich werde schreiben, so oft ich kann.«
    Sie schlang leidenschaftlich die Arme um seinen Hals. Ihre Liebesbezeugungen brachten ihn manchmal in Verlegenheit. Ein wenig mehr Passivität wäre ihm lieber gewesen. Es schockierte ihn ein wenig, dass sie den Ton angab: Es stimmte so gar nicht mit seiner vorgefassten Meinung über die Sittsamkeit der Frauen überein.
    Endlich kam der Tag heran, an dem Miss Wilkinson abreisen musste, und sie erschien blass, niedergeschlagen und in einem praktischen schwarz-weiß karierten Reisekostüm beim Frühstück. Sie hatte das Aussehen einer sehr tüchtigen Gouvernante. Auch Philip war schweigsam, denn er wusste nicht genau, welchen Ton er anschlagen sollte. Er hatte furchtbare Angst, dass Miss Wilkinson, wenn er etwas Scherzhaftes sagte, vor seinem Onkel zusammenbrechen und ihm eine Szene machen könnte. Sie hatten sich den Abend zuvor voneinander verabschiedet, und Philip war froh, dass sich ihnen keine Gelegenheit mehr zum Alleinsein bot. Er blieb nach dem Frühstück im Esszimmer, für den Fall, dass Miss Wilkinson beabsichtigte, ihn auf der Treppe zu küssen. Er hatte keine Lust, von Mary Ann, die nun nicht mehr die Jüngste war und eine scharfe Zunge hatte, in einer kompromittierenden Situation ertappt zu werden. Mary Ann mochte Miss Wilkinson nicht und nannte sie eine alte Ziege. Tante Louisa fühlte sich nicht ganz wohl und konnte nicht mit zum Bahnhof kommen, aber der Vikar und Philip begleiteten Miss Wilkinson. Knapp bevor der Zug abfuhr, lehnte sie sich zum Fenster hinaus und küsste Mr.   Carey.
    »Ihnen auch einen Kuss, Philip«, sagte sie.
    Er stellte sich auf das Trittbrett, und sie küsste ihn rasch. Der Zug setzte sich in Bewegung, und Miss Wilkinson ließ sich in ihre Coupé-Ecke sinken und weinte herzzerreißend. Als Philip zum Pfarrhaus zurückging, fühlte er sich ausgesprochen erleichtert.
    »Nun, habt ihr sie wohlbehalten in den Zug gesetzt?«, fragte Tante Louisa.
    »Ja, aber es war ein tränenreicher Abschied. Zum Schluss haben wir beide einen Kuss bekommen.«
    »Na, in ihrem Alter ist das harmlos.« Mrs.   Carey zeigte auf das Büffet. »Da liegt ein Brief für dich, Philip. Er ist mit der zweiten Post gekommen.«
    Der Brief war von Hayward und lautete folgendermaßen:
Mein lieber Junge!
Ich beantworte Deinen Brief sofort. Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn einer Freundin vorzulesen, einer bezaubernden Frau, die mir viel bedeutet, einer Frau überdies mit einem wirklichen Gefühl für Kunst und Literatur, und wir waren uns einig, dass Dein Brief reizend ist. Du schreibst mit dem Herzen, und Du kannst Dir nicht vorstellen, welch entzückende Naivität aus jeder Zeile spricht. Und weil Du liebst, schreibst Du wie ein Dichter. Ach, mein Junge, die Liebe ist das einzig Wahre. Ich fühlte die Glut Deiner jungen Leidenschaft, und Deine Sprache wurde zur Musik durch die Aufrichtigkeit Deines Gefühls. Du musst glücklich sein! Ich wollte, ich hätte unsichtbar in jenem verzauberten Garten weilen können, während Ihr Hand in Hand dahinwandeltet, wie Daphnis und Chloe, inmitten der Blumen. Ich sehe Dich vor mir, mein Daphnis, das Licht Deiner jungen Liebe in den Augen, zärtlich, verzückt, brennend; und in Deinen Armen Chloe, so jung, so weich, so blühend – und sie schwört, dass sie niemals einwilligen wird, niemals.
Rosen, Veilchen und Geißblatt! Oh, mein Freund, ich beneide Dich. Es ist so gut zu denken, dass Deine erste Liebe reine Poesie sein durfte. Halte diese Stunden heilig, denn die unsterblichen Götter haben Dir das größte aller Geschenke gegeben, und es wird Dir eine süße und traurige Erinnerung bleiben bis ans Ende Deiner Tage. Nie wieder wird Dir solch unbeschwerte Seligkeit zuteil werden. Die erste Liebe ist die beste; dein Mädchen ist jung, und Du bist jung, und die ganze Welt steht Euch offen. Mein Puls

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