Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
einen Ausweg an, ja?«
Sie nickte.
»Das tun wir immer, das wissen Sie doch.«
Er sah auf die Uhr, während er den Gang hinunterlief. Heute war der feste OP-Tag für Spendernieren, und der Terminplan war voll. Trotzdem gewährte er sich, einen Augenblick lang bei der Euphorie zu verweilen, die ihn erfasst hatte und ihm das Gefühl schenkte, schweben zu können. Sogar das Gespräch mit Annelise, in dem er ihr Verhältnis beendet und ihr erzählt hatte, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte, konnte seine Stimmung nicht trüben. Sie hatte ihm eine Szene gemacht, aber das war ein vergangenes Kapitel. Er wollte nach vorne schauen.
Er hatte zwar eigentlich keine Zeit mehr, dennoch zog es ihn zu seinem Büro. Sein Puls begann schneller zu gehen, er musste lächeln. Er war Arzt und gewohnt, die Reaktionen des Körpers als rein biologische Abläufe zu betrachten. Aber die vergangenen Tage hatten ihn eines Besseren belehrt und ihm gezeigt, dass es Dimensionen gab, die außerhalb des Erklärbaren waren und die er auch gar nicht analysieren wollte. Und das bei ihm, der immer den Drang hatte, rationale Erklärungen für alles zu finden, was es zwischen Himmel und Erde gab.
Alles hatte an jenem Abend angefangen, als sie zusammen essen waren. Wie sollte man das nennen? Das Wort Affäre war viel zu wenig, und außerdem schmeckte es nach etwas, was weit entfernt war von dieser Erfahrung. Liebesbeziehung wäre passender. War das nicht genau das, was sie hatten?
Nach dem Essen im Restaurant hatte er sie nach Hause gefahren. Schön war ein passendes Wort für all das. Alles war so klar gewesen, das hatte er im Nachhinein erkannt. Sie hatte es dazu gemacht. Klar und ungekünstelt. Wie durch ein Wunder |272| war es ihr gelungen, dass seine Tollpatschigkeit und Schüchternheit sich aufgelöst hatten. Sie hatte sich um sie beide mit einer Selbstverständlichkeit gekümmert, mit der man ein Pflaster auf eine Schramme klebt oder einen Verband um ein aufgeschlagenes Knie legt. So hatte auch sie ein Pflaster auf seine Seele an die Stelle geklebt, wo es am allermeisten weh tat, wo der Schmerz und das Bedürfnis nach ihrer Fürsorglichkeit am allergrößten waren.
Es war ein Wunder, und man musste es nicht verstehen.
Daran dachte er, als er an den Toiletten kurz vor seinem Büro vorbeiging und plötzlich ein merkwürdiges Geräusch hinter der verschlossenen Tür hörte. Es klang wie ein schwaches Schluchzen. Vorsichtig schob er die Tür einen Spalt auf und sah sie über dem Waschbecken bei laufendem Wasser gebeugt stehen. Ihr Körper zog sich in krampfhaften Zuckungen zusammen.
»Lena.«
Er sagte es leise, und sie reagierte zuerst auch nicht. Dann aber hob sie den Kopf, sah in den Spiegel und brach erneut in Tränen aus.
»Lena. Was ist passiert?«
Abrupt drehte sie sich um. Es sah aus, als versuche sie, ihn zu fokussieren, aber es gelang ihr nicht. Sie blinzelte. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Er kam auf sie zu und schloss sie in die Arme.
»Aber, mein Liebling. Was ist geschehen? Willst du es mir nicht erzählen?«
Sie war so schmächtig in seinen Armen, der Wunsch, sie zu beschützen, überkam ihn mit einer Wucht, die er noch nie zuvor erlebt hatte. So fühlte er sich mit ihr, alles war so neu und noch nie erprobt.
»Es ist nichts«, schluchzte sie. »Nichts.«
Er schob sie ein Stück von sich und wollte ihr eigentlich so vieles sagen. Aber er sah ihr nur in die Augen, und plötzlich verstand er.
|273| »Was ist mit deinen Augen? Was hat der Augenarzt dir gesagt?«
Sie wand sich aus seinem Griff, und da wusste er, dass ab jetzt alles anders sein würde.
»Ich hätte es dir gleich sagen sollen. Gleich am ersten Tag«, murmelte sie. »Aber ich konnte nicht. Es fühlte sich so unwirklich an.«
»Was sagen sollen?«
Sie holte tief Luft. Ihre Brust hob und senkte sich, er sah, dass sie ihren ganzen Mut zusammennahm.
»Meine Hornhaut löst sich auf. Meine Augen können das Licht nicht mehr filtern.«
Als er nichts entgegnete, fuhr sie fort:
»Ich erblinde.«
Sein erster Impuls war es, sie erneut in den Arm zu nehmen, aber er traute sich nicht. Ihr Stolz hielt ihn davon ab.
»Es tut so weh«, sagte sie. »Das Licht, es tut so weh.«
Ihre klägliche Stimme bohrte sich tief in sein Herz. Der Raum warf ihre Worte als Echo zurück und unterstrich ihre Angst und Einsamkeit.
»Kann man nichts dagegen unternehmen? Kann dir der Augenarzt nicht helfen?«
Sie nickte, gleichzeitig zuckte sie mit den Schultern
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