Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
geworfen, an einen Pflasterstein gebunden.« Sie reichte ihm den Zettel. »Es ist eine Kopie.«
Er las ihn und warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»›Lass die Toten in Frieden ruhen‹«, wiederholte er mit Grabesstimme. »Wow. Das ist ja reinste Poesie auf Shakespeare-Niveau.« Er lachte laut auf, und das machte sie noch wütender.
»Gib mir einen Namen. Einen Anhaltspunkt. Sonst gehe ich aus dieser Tür, und du siehst mich nie wieder.«
Sein Lachen endete abrupt. »Hast du Angst zu sterben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Habe ich einfach nicht«, sagte sie und meinte es in diesem Moment auch so. Könnte es etwas Schlimmeres geben als diese |314| Situation, in der sie gerade war? Was könnte schmerzhafter und gleichzeitig betäubender und gefühlsloser sein, als den verlorenen Sohn wiederzufinden und zu entdecken, dass der weder Liebe annehmen noch selber geben wollte, noch nicht einmal Menschlichkeit?
»Wovor hast du dann Angst?«
»Nichts, was mich selbst betrifft«, antwortete sie ehrlich.
»Aha. Also, wenn es um deine Lieben geht, wie man so schön sagt. Deine Tochter? Denn ich habe eine Schwester, stimmt’s? Rose?«
Sie schauderte. Natürlich kannte er Roses Namen. Aber es fühlte sich an, als wäre er viel zu nah dran.
»Gib mir etwas, sonst ist es hier und jetzt beendet.«
Er lächelte. Es irritierte sie, dass ihr Körper darauf reagierte und ein Teil von ihr weich wurde.
»Erzähl mir von Rose. Wie alt ist sie? Siebzehn? Achtzehn? Ist sie hübsch? Klug? Rebellisch? Vielleicht hätte sie Lust, ihren Bruder kennenzulernen?«
Dicte stand auf und ging zur Tür.
»Leb wohl.«
»Empfindliches Thema, diese Rose, ja?«
Sie wirbelte herum.
»Du hältst dich von ihr fern. Ich beiße bei dir an, wenn du deine Karten richtig spielst. Aber du lässt deine Finger von meiner Tochter.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Zu spät. Ich habe ihr schon eine Mail geschickt.«
»Sie wird dir niemals glauben, nicht wenn ich ihr das Gegenteil sage.«
»Wir werden sehen«, erwiderte er bloß und klopfte mit der Handfläche auf die Sitzfläche seines Stuhles. »Jetzt komm mal zurück und beruhige dich wieder. Dann werde ich dir auch etwas erzählen.«
Sie hasste sich dafür, dass sie seiner Aufforderung Folge leistete. Sie hasste es, dass es ihr nicht gelungen war, sein Innerstes |315| zu berühren und auch nur den kleinsten Fitzel an Menschlichem aus ihm herauszukitzeln. Sie hasste es, dass das Stadion-Rätsel so bedeutend war und so laut nach einer Lösung schrie, dass sie bereit war, wieder in seinen Machteinflussbereich zurückzukehren. Das würde sich rächen. Sie hätte auf Bo hören sollen.
Sie setzte sich auf den Stuhl. Er streckte seinen Arm aus und strich ihr übers Haar, fast ohne sie dabei zu berühren. Sie zitterte.
»Wenn es was mit Nieren zu tun hätte, würde ich ganz bestimmt nicht hier liegen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Dann hätte ich doch schon längst meine Kontakte genutzt und mir selbst ein frisches Organ besorgt, meinst du nicht?«
Zu ihrer Erleichterung zog er seine Hand zurück.
»Vielleicht hast du nicht genug Geld dafür. Auch eine Niere auf dem Schwarzmarkt kostet Geld. Außerdem ist es nicht so einfach, sie sich zu besorgen und sich einsetzen zu lassen.«
»Ganz genau«, stimmte er ihr zu. »Eine Lebendorganspende ist eine schlimme Sache. Das Organ muss entfernt werden, solange der Körper noch warm ist. Sehr kompliziert. Kein gutes Pflaster. Die Toten hingegen …«
Er ließ den Satz in der Luft hängen. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren.
»Was ist mit den Toten? Was kann man mit einem toten Körper anfangen?«
Er wandte den Blick zur Decke.
»Meine Fresse, bist du schwer von Begriff. Man merkt sofort, dass du nicht Medizin studiert hast.«
Zuerst sah sie auf einen Haufen von Puzzleteilen, doch plötzlich nahm das Bild Konturen an.
»Polen. Eine große Privatklinik«, sagte sie. »Patienten, die nach Bagatelloperationen an schweren Infektionen sterben oder sich mit AIDS infizieren.«
Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als fände er ihre Ausführungen sterbenslangweilig. Sie versuchte sich an die verschiedenen |316| Gesetze zu erinnern, die verabschiedet oder verändert worden waren. Was hatte sie alles gelesen?
»Das neue Gewebegesetz«, brach es plötzlich aus ihr hervor.
Er sah schlafend aus. Kleine Schnarchgeräusche erfüllten den Raum. In seinen Händen hielt er noch immer ihren Drohbrief. Sie stand auf, nahm den Zettel an sich und griff nach
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