Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
über das Gebäude flog, während sie sich alle lauthals miteinander unterhielten, zumindest klang es so. Ihre Flügel sausten durch die Luft und erzeugten ein Geräusch, als würde man Watte kneten. Es erinnerte sie an ihre Kindheit und an die wenigen Augenblicke, in denen sie glücklich gewesen war: zu Besuch bei der Großmutter, die in der Nähe von Silkeborg im Seenhochland gelebt hatte.
Die Tränen flossen jetzt in Strömen. Weshalb sie das so bewegte, konnte sie nicht einmal sagen. Die Schwäne gaben ihr nur einen winzig kleinen Hinweis über ihren Aufenthaltsort: Sie befand sich in der Nähe von Wasser.
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Kapitel 62
John Wagner würde wohl niemals aufhören, sich über die Eitelkeit und Torheit der Menschen zu wundern. Er hatte sich auch angewöhnt, das bei seinen Ermittlungen zu berücksichtigen. |398| Man musste immer damit rechnen, dass die Leute logen. Die Zeugen logen. Sogar die Opfer logen, wenn es möglich war und sie ihre Tortur überlebt hatten. Und die Angehörigen logen, aus Motiven, die allen anderen unbedeutend erscheinen mochten außer ihnen selbst. Wohlgemerkt waren das Motive, die in ihren Augen von geringer Bedeutung für die Ermittlungsarbeit und somit vollkommen uninteressant für die Polizei waren. Niemand verlor gern sein Gesicht, niemand gestand gern Fehler ein. Niemand hatte großes Interesse daran, dass die eigene Untreue oder die des Ehepartners und der Mangel an Liebe ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurden und so das vermeintlich perfekte Leben Schrammen bekam.
Daran musste er denken, als er Marianne Mortensen, der Mutter der Toten, in seinem Büro einen Platz anbot. Sie hatte um dieses Gespräch gebeten, und zwar nicht, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Wagner hatte sofort erkannt, dass sie gekommen war, um eine Lüge zu gestehen oder, schöner ausgedrückt, um ein Missverständnis zu klären.
»Ulrik war nicht Mettes leiblicher Vater«, sagte sie, kaum dass sie sich hingesetzt hatte. »Mette war zwölf, als Ulrik und ich uns kennenlernten. Sie haben sich nie richtig verstanden, ich vermute, da war auch viel Eifersucht im Spiel.«
Wagner betrachtete die Frau vor sich. Hätte Mette Mortensen später so ausgesehen? Farblos und traurig, mit strähnigem Haar, grau am Ansatz und blond an den Spitzen. Oder hatte der Tod ihrer Tochter seinen Tribut eingefordert? Ganz sicher auch, das hatte er schon so oft gesehen. Hinter dem traurigen Äußeren konnte man nämlich eine ziemlich hübsche, schlanke Frau mit hohen Wangenknochen und regelmäßigen Zügen erahnen. Ihre Augen waren blau, aber ohne jeden Glanz.
»Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
Er sagte es so freundlich wie möglich, wusste er doch von ihrem großen Verlust.
»Ich war der Ansicht, es hätte keine Bedeutung«, sagte sie kleinlaut und wählte damit die Mutter aller schlechten Ausreden. |399| »Warum sollte das auch wichtig sein? Er konnte ja unmöglich mit der Sache zu tun haben, und er hätte Mette auch niemals angefasst, das weiß ich genau. So war ihr Verhältnis nicht, es war nur immer diese …«
»Ja?«
Sie suchte nach dem richtigen Wort.
»… Verachtung, würde ich sagen. Ulrik verachtete vieles an Mette. Ihren Klamottengeschmack – sie liebte alles, was rosa und mädchenhaft war. Er verachtete ihren Musikgeschmack und ihr mangelndes Interesse an Politik. Und ihren Männergeschmack natürlich auch. Er verachtete sie, weil sie lieber Krimis statt hochwertige Literatur las und weil sie sich für diese Ausbildung entschieden hatte.«
»Zur Rechnungsprüferin?«
Marianne Mortensen knetete die Handtasche in ihrem Schoß. »
Er hat sie einfach nicht verstanden, um es kurz zu sagen. Und er hat nicht erkannt, wie sehr sie sich nach einem Vater sehnte, der sie einfach so annimmt, wie sie ist. Ihr leiblicher Vater hat versagt.«
Wagner wartete darauf, dass sie diesen Gedanken noch weiter ausführte.
»Ihre Begabung für Zahlen hat sie von ihm geerbt. Er war Professor für Mathematik, aber ihm fehlte vollkommen das Verständnis für seine Mitmenschen. Er hatte nur sein Fach im Kopf. Wir haben uns scheiden lassen, als Mette sechs Jahre alt war. Sie liebte und verehrte ihn, aber er vergaß sie oft, an den Wochenenden, an ihren Geburtstagen und an Weihnachten. Er hatte einfach keinen Platz in seinem Herzen für sie.«
Erneut drückte Marianne Mortensen ihre Tasche ganz fest an sich.
»Ulrik hätte bestimmt ein verständnisvollerer Stiefvater sein können. Vielleicht war er
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