Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
sich.
»Seine Mutter starb. Er hatte eine sehr enge Beziehung zu ihr. Sie stand auf der Warteliste für ein Spenderherz, doch es kam nicht rechtzeitig. Er wurde immer verbitterter – über alles, am meisten jedoch über das Gesundheitssystem, in dem er auch noch selbst arbeitete. Und es bis heute tut, soweit ich gehört habe.«
»Genau wie Arne.«
Er nickte.
»Kim hatte ihm diesen Job vor einigen Jahren vermittelt, als sie sich einander wieder etwas annäherten. Früher waren sie einmal gute Freunde gewesen, obwohl so etwas bei Jungen ja immer etwas schwierig zu beurteilen ist. Sie verlieren wenig Worte darüber. Vielleicht könnte man ihre Beziehung als Hassliebe bezeichnen, die von einem starken Konkurrenzgefühl geprägt war.«
|408| »Was genau arbeitet Kim denn?«
Winkler holte tief Luft. Er hob die Katze hoch und setzte sie behutsam auf den Boden. Dann seufzte er. Es war ein langer, zitternder Seufzer.
»Er war mehrere Jahre lang dafür zuständig, die Verstorbenen in die Leichenhalle zu überführen, vielleicht ist er das heute immer noch. Überhaupt hat er im Krankenhaus viel mit Toten zu tun.«
Dicte ließ das Ganze einen Moment lang sacken. Nach und nach ergab sich ein Zusammenhang. Der Krankenhausangestellte, der Zugang zu den Leichen hatte. Der Bestatter, in dessen Räumen das Gewebe entnommen wurde. Kim hatte einen Mithelfer gebraucht, der Wache hielt und der ihm vielleicht auch zur Hand ging. Bay hatte sich dafür ideal angeboten, und sie waren schließlich wie Brüder gewesen.
»Er hat einen Spitznamen, den ich nicht ganz verstehe«, fiel ihr plötzlich ein, »Sharon? Sagt Ihnen das etwas?«
»Charon mit Ch. Nach dem Fährmann in der griechischen Mythologie, der die Toten über den Styx, den Fluss des Grauens, hinüber in das Totenreich Hades bringt.«
Als er die alte Sage erwähnte, die sie noch aus der Schulzeit kannte, war seine Stimme schwer vor Trauer. Sie konnte ihn verstehen.
»Ging es in dieser Sage nicht auch um Augen?«, fragte sie.
Er nickte.
»Die Toten mussten für die Überfahrt zahlen. Wenn auf ihren Augen keine Goldmünzen lagen, waren sie gezwungen, ins Grab zurückzukehren, von dem aus sie dann die Lebenden heimsuchten.«
Was für eine Ironie, dass Kim Deleuran die Leichen ins Totenreich überführt hatte, jedoch nicht mit Münzen, sondern mit Glasaugen. Vielleicht war ihm das eine besondere Genugtuung gewesen. Möglicherweise spürte er, dass er auf diese Weise seinem Namen gerecht wurde. Charon.
Sie sah Winkler an, der den einen Sohn ausgenutzt hatte, um |409| den anderen auszuspionieren. Ließ man alles Politische außer Acht, blieb am Ende nur eins zurück: eine Familie, die in den Fluss des Grauens gestürzt war.
»Ich habe gehört, dass die Polizei Arnes Leichnam jetzt freigegeben hat. Wann findet die Beerdigung statt?«
»Morgen. In der Åbyhøj Kirche. Er wird anonym beigesetzt, es ist die einzige Möglichkeit, dass er von seinen Mitstreitern nicht zum Märtyrer stilisiert wird.«
Sie nickte und blieb noch kurz sitzen, bis sie den Kaffee ausgetrunken hatten. Der Appetit auf die Brötchen war ihr vergangen, sie musste an die frische Luft, weg von dieser bedrückenden Stimmung aus Schuld, Reue und vergeblicher Liebe. Einst hatte sie über die beiden gerätselt: Ob hier der Sohn seinen Vater umbringen wollte oder der Vater den Sohn opfern. Jetzt sah es so aus, als hätten sich beide Vermutungen bestätigt.
»Ich finde selbst hinaus«, sagte sie schließlich und stand auf.
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Kapitel 64
Janos Kempinski schloss die Naht, nachdem er festgestellt hatte, dass die neue Niere funktionierte.
Danach steckte er seinen Kopf in Inger Hørups Büro.
»Wie geht es Boutrups Mutter?«
»Zu hoher Blutdruck«, lautete die Antwort.
»Das heißt, sie hat es sich nicht anders überlegt?«
Die Krankenschwester schüttelte den Kopf.
»Sie schien enttäuscht. Besorgt darüber, wie es nun mit ihm weitergeht.«
»Was ist mit dem Vater? Können wir ihn ausfindig machen?«
Sie schüttelte erneut den Kopf.
»Ich habe Boutrup danach gefragt. Aber er möchte es nicht. Er sagt, dass er jetzt auf eine postmortale Niere hofft.«
|410| »Hoffentlich klappt es. Eine Spende aus der Familie wäre besser gewesen.«
»Aber was kann man schon gegen seine Sturheit ausrichten? Glauben Sie, dass er gern sterben möchte?«
Janos überlegte einen Augenblick. Möglicherweise stellte der Tod für manche Menschen einen Ausweg dar, aber Boutrup wirkte nicht wie einer von ihnen.
»Nein.
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