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Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman

Titel: Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elsebeth Egholm
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ihren Stuhl hinter einem breiten Wacholderstrauch, stellte den Ton ihres Handys aus, machte es sich bequem und wartete.
    Wenig später trank sie bereits den ersten Becher Kaffee, packte ein Sandwich aus und verspeiste es. Dann begann sie,
Enigma
von Robert Harris zu lesen, ein Buch über die britischen Codebrecher im Geheimdienstzentrum Bletchley Park während des Zweiten Weltkriegs.
    Sie behielt die Uhrzeit im Auge und folgte dem Lauf der Sonne am Himmel; man konnte sie sehen, obwohl sie die meiste Zeit hinter der Wolkendecke verborgen war.
     
    Drei Stunden waren vergangen, die Wolkendecke hatte sich verdichtet, und einzelne Regentropfen fielen herab, als der Zweifel |423| in ihr zu nagen begann und sie sich fragte, ob sie nicht lieber an einem der Einsätze hätte teilnehmen sollen, die vielleicht schon begonnen hatten. Möglicherweise hatte ihr Instinkt sie getäuscht, und sie würde vergeblich hier sitzen.
    Irgendwie wusste sie aber dennoch, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Er würde kommen; früher oder später würde er auftauchen. Sie waren Brüder gewesen. Eine Hassliebe, hatte Winkler gesagt. Genau wie das Verhältnis zwischen ihr und ihrer eigenen Familie.
    Sie hatte sich gefragt, wie sie reagiert hätte, wenn ihre eigene Schwester beerdigt worden wäre. Jene Schwester, die den Kontakt zu ihr abgebrochen und sich für ein Leben mit Jehova entschieden hatte. Und ihre Antwort war genau diese gewesen: Sie würde warten. Würde alle anderen zuerst Abschied nehmen lassen und ein wenig Zeit verstreichen lassen, bis sie sicher war, niemanden mehr zu treffen, den sie kannte. Und erst dann, vielleicht sogar im Schutz der Dämmerung, würde sie auftauchen, um sich zu verabschieden. Sie würde lange dastehen, die Blumen und das frische Grab betrachten und von Trauer darüber erfüllt sein, dass sie und ihre Schwester sich nie wieder so lieben konnten, wie es Geschwistern zustand, seit Jehova in ihre Kindheit getreten war. Sie würde ihren Tränen freien Lauf lassen, wenn sie überhaupt weinen könnte, und auf diese Weise Trost finden. Und am Ende eine Blume oder ein anderes Symbol auf das Grab legen, sich abwenden und gehen.
    Inzwischen hatte ein Regen eingesetzt, den man nicht mehr nur als Nieseln bezeichnen konnte. Die Seiten ihres Buches wurden nass, schon bald konnte sie die Buchstaben nicht mehr erkennen, doch sie wollte ihre Taschenlampe nicht einschalten. Irgendwo in der Nähe hörte sie ein Donnern, und einige Sekunden später zerriss ein Blitz den Himmel.
    Sie zog ihre Kapuze über und schnürte sie zu. Dann hörte sie endlich das Geräusch. Autoreifen auf Kies. Sie sah auf die Uhr. Es war fünf nach zehn.

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    |424| Kapitel 67
    Inzwischen war etwas Zeit vergangen, und sie konnte wieder frei atmen.
    Kiki holte so tief Luft, wie sie konnte, und spürte, wie der Sauerstoff bis in die letzten Winkel ihrer Lunge gelangte. Als er sie erneut hatte knebeln wollen, hatte sie einen Anfall erlitten. All die Stunden, die sie durchgehalten hatte; all die Zeit, in der sie den Klauen der Klaustrophobie entkommen war und sich gezwungen hatte, durch die Nase zu atmen, zerrann ihr plötzlich zwischen den Fingern, und Panik befiel sie, verstärkt durch den Schleim, der sich nun bildete und wie ein Pfropfen ihren Hals verschloss. Sie hatte geröchelt und gejammert und schließlich mehrmals das Bewusstsein verloren, bis er endlich wieder den Knebel entfernt hatte.
    »Ich habe Asthma«, flüsterte sie. »Ohne meine Medizin überlebe ich nicht lange.«
    Dann hatte er sie wieder in den Sarg gelegt, diesmal nicht gefesselt und geknebelt. Das war auch nicht notwendig. Durch den Blutverlust und die Schmerzen war sie so geschwächt, dass sie kaum mehr bei Bewusstsein war. Ihre Gedanken glitten ins Reich der Träume hinüber und schließlich ins Nichts, zwischendrin erwachte sie plötzlich und dachte, sie sei tot. Schließlich wünschte sie den Tod sogar herbei.
    Gleichzeitig existierte irgendwo in ihrem Kopf diese kleine Glocke. Sie wusste nicht, wo die Glocke herkam, aber sie wusste, was sie von ihr verlangte. Gib nicht auf, flüsterte sie ihr zu, gib nicht auf!
    Sie formte die Worte mit ihren Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen. Aber ihr Klang hallte in ihrem Inneren wider, und sie wunderte sich darüber. Denn wenn sie ganz ehrlich war – wofür lohnte es sich überhaupt noch zu leben? Was war ihr Leben eigentlich wert, mit ihrer Scham, Schuld und dieser Lust, die immerzu präsent war wie ein tiefes, nie enden

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