Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Laufenden.
»Die haben sie draußen am Stadion gefunden. Zweiundzwanzig Jahre alt.«
»Und mit ausgestochenen Augen?«
Sie wollte am liebsten die Geschichte vom Essenstisch verbannen, aber da mischte sich Oliver ein.
»Das war direkt nach dem letzten Saisonspiel. AGF hat fett verloren.«
Es war typisch für Oliver, dass er den Ausgang des Spiels weitaus |56| spannender fand. Sie unterdrückte ein Lächeln, während sie den Salat weiterreichte.
»Wissen die schon, wer das getan hat?«
In Wirklichkeit war sie nicht besonders an der Geschichte interessiert, sondern fragte nur, um das Gespräch am Laufen und die Kinder länger am Tisch zu halten. Aber die hatten ihre Pizzen schon verschlungen und befanden sich auf dem Rückzug in ihre Zimmer. Sie war im Begriff, sie zu verlieren, dessen war sie sich sehr bewusst. Mitten in diesem Familienchaos machte sie sich darüber am meisten Sorgen. Und über die Frage, wie sehr sie ihre Kinder eigentlich liebte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob in ihrem Leben tatsächlich Platz für Liebe war. Beziehungsweise, was Liebe für eine Größe war.
Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Sie spülte die Teller ab und stellte sie in die Spülmaschine. Müdigkeit, Schmerz und Wohlbefinden bekämpften sich gegenseitig in ihr.
»Tat es weh?«, fragte ER, als die Kinder verschwunden waren.
Sie zuckte mit den Schultern und hatte ihm dabei den Rücken zugewandt.
»Hast du geschrien?«
Hatte sie geschrien? Sie hatte im Strudel aus Schmerzen gestöhnt, aber an etwas anderes erinnerte sie sich nicht. Sie war wie gelähmt gewesen. Arme und Beine hatten ihren Dienst verweigert. Lust und Schmerz hatten sich an der Stelle vereint, an der sie immer wieder die Peitsche zu spüren bekam.
»Vielleicht«, antwortete sie.
Sie drehte sich erst wieder um, als sie die Küche aufgeräumt hatte. Sie betrachtete IHN. Er sah nach wie vor gut aus, aber wie viel er auch trainierte, seine Beinmuskulatur würde nie mehr so werden wie früher. Wie lange kannten sie sich eigentlich schon? Seit wie vielen Jahren waren sie schon aneinander gebunden? Neunzehn, zwanzig? Etwas in der Richtung. Er war ihr Päckchen, das sie mit sich herumzuschleppen hatte, sie war seins.
|57| Er fuhr mit seinem Rollstuhl hinaus ins Wohnzimmer, und sie folgte ihm, nachdem sie den Küchentisch und die Arbeitsplatte abgewischt hatte.
»Jetzt komm schon«, forderte er sie auf. »Erzähl.«
Sie begann von Anfang an. Übersprang kein Detail. Während sie erzählte, zog er sie mit seinen Blicken aus. Sie konnte die Bilder förmlich sehen, die in seiner Phantasie entstanden.
Als sie fertig war, lehnte er seinen Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. Sie stand auf, stellte sich hinter ihn und massierte seine Kopfhaut, bis seine Atemzüge sich wieder beruhigt hatten.
»Du wolltest es wissen.«
Er nickte langsam.
»Aber dieses Mal ist es etwas anderes, nicht wahr?«
Sie zögerte.
»Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Bring ihn mit hierher.«
»Nein.«
»Dann ist es etwas anderes«, stellte er fest.
Er nickte zum Sofatisch, auf dem die Tageszeitung lag.
»Du solltest vielleicht den Artikel über diese Frauenleiche lesen, die sie am Stadion gefunden haben. Sie suchen nach einem Typen, der deinem Freund ähnelt.«
Er sagte das ganz ohne Bosheit in der Stimme, aber die Worte brannten mehr als die Schläge der Peitsche. Mit steifen Bewegungen holte sie die Zeitung und schlug sie auf. Sie las den Artikel und sah IHN danach an.
»Es gibt viele, die solche Stiefel tragen.«
Es klang neutral, dennoch spürte sie, wie sich eine prickelnde Spannung in ihr ausbreitete.
»Selbstverständlich«, antwortete er. »Das könnte jeder sein.«
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|58| Kapitel 9
Die Eltern des Opfers wohnten in der Sjællandsgade, im ehemaligen Nuttenviertel der Stadt, das schon vor langer Zeit in die mondänen Häuserreihen eingegliedert worden war. Die Bordsteinschwalben waren vor Jahrzehnten verdrängt worden durch Mitglieder des Bundes dänischer Akademiker oder der Vereinigung dänischer Anwälte und Betriebswirte. Dazu gehörten auch Ulrik Storck und Marianne Mortensen. Sie unterrichtete Dänisch und Englisch an der Domschule. Er war Anwalt und Partner bei der Kanzlei Lind, Balle & Storck, die im Volksmund »Die roten Anwälte« genannt wurden.
Wagner parkte das Auto vor der Bäckerei. Jan Hansen warf sehnsüchtige Blicke in die Auslage und sah die Straße hinunter. Wagner fand, dass sein Kollege irgendwie fehl am
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