Der Menschenspieler
beladenen Bäume in der Dunkelheit. Der Campus war zu dieser Zeit wie ausgestorben. Kein Verkehr auf der Rose Avenue, keine anderen Studenten überquerten die gefrorenen Höfe.
Alex ging vor ihren Kurskollegen, eilte über Harper’s Knoll, das geografische Zentrum des Campus, dann den Hügel am Verwaltungsgebäude namens The Tower hinunter, wo sich die niedrigeren Bauten der Wohnheime ausbreiteten. Man konnte von hier aus die Erstsemesterjungs johlen hören, konnte Rauch aus den Schornsteinen der griechischen Häuser aufsteigen sehen. Hier möchte ich sein , dachte sie, wenn sie jeden Abend diesen Weg über den Campus nahm. Das möchte ich mit meinem Leben anfangen, ein Teil hiervon sein. Literatur an einem Ort wie diesem unterrichten .
»Vertraust du ihm?«
Sie drehte sich um. Es war ihr Sitznachbar, Keller. Er trug einen Daunenmantel mit einer Kaninchenfellkapuze, auf der Brust ein Aufnäher, auf dem JASPER COLLEGE FOOTBALL stand. Er ging bedächtig, sein Gewicht durchbrach den Schnee, das Knirschen seiner Schritte hallte vom Tower wider, der jetzt rechts von ihnen lag.
»Aldiss?«, fragte Alex.
»Mmm.«
»Tust du es?«
Er sagte nichts.
»Er sieht nicht wie ein Mörder aus«, sagte sie.
»Haben Mörder ein spezielles Aussehen?«
Alex lächelte. »Manson schon. Dahmer. Verrückte Augen. Aldiss ist nicht verrückt.«
»Vielleicht verrückt wie ein Fuchs«, sagte er. »Sieh mal.«
Keller zeigte ihr etwas. Von seiner Handinnenfläche geglättet, damit der Wind es nicht davonriss, lag im Schein eines Notlichts ein Blatt aus einem Notizblock. Am rechten Rand befanden sich dreißig oder vierzig Häkchen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Die Anzahl seiner Lügen.«
Sie sah von der Seite auf. »Und woher weißt du das?«
»Es kommt vom Football. Wenn man einen Typen blockt, zeigen seine Augen, was er tun wird. Darum geht es, wenn man Offensive Lineman ist: in die Richtung zu laufen, in die der andere Typ läuft. Man erkennt eine Reihe von Lügen. Immer und immer und immer wieder mache ich diese kleinen Lügendetektortests.«
»Hast du Aldiss vielleicht ein Blutdruckmessgerät angelegt? Die Sicherheitsvorkehrungen in Rock Mountain sind aber ganz schön lax, Keller.«
Er lächelte. »Ich meine es ernst. Dieser Typ macht viele Sachen. Im Football lernt man, wohin man sich bewegen muss, bevor es im Spiel überhaupt so weit ist: Dein Mann schaut nach unten, zur Seite. Er wird dir über das Getümmel etwas zurufen, und seine Stimme bricht. Diese kleinen … Zeichen, weißt du.«
»Und Professor Aldiss macht solche Zeichen.«
» Viele , allein heute Abend.«
»Was bedeutet es?«
»Dass er weiß, wer Fallows ist«, sagte Keller. »Er kann ihn nur nicht erreichen. Wir sind seine Beine. Seine Beine und Augen. Aber uns einfach die Identität des Kerls zu verraten wäre geschummelt. Also führt uns Aldiss an der Nase herum, und wir fallen drauf rein. Darum geht es bei diesen ›Rätseln‹. Kleine Puzzleteile, bis wir wissen, wer diese Bücher tatsächlich geschrieben hat. Aber da ist noch etwas.«
Alex sah ihn an. »Was?«
»Ich weiß nicht.« Der Sportler schüttelte den Kopf, Schneeflocken benetzten seine Wangen. »Das habe ich noch nicht herausbekommen, aber ich arbeite daran.«
Alex sah weg. Philbrick Hall lag direkt vor ihnen, das größte Mädchenwohnheim auf dem Campus. Sie sah die Silhouette eines Mädchens im obersten Stockwerk, es lehnte am Fenster und las. Sie hörte, wie das Telefon von irgendjemandem klingelte, und sie dachte an ihren kranken Vater. Fragte sich, wann dieser Anruf wohl käme.
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie zu Keller. »Vielleicht lügt Aldiss. Vielleicht weiß er tatsächlich, wer Fallows ist, und spielt dieses Spiel mit uns. Trotzdem: im Zweifel für den Angeklagten.«
»Und warum das?«
»Weil«, sagte sie, »ich gern Spiele spiele.« Und gern gewinne.
Alex
Gegenwart
9
Einer nach dem anderen trafen die Studenten der Abendklasse ein.
Alex zwang sich, ihre Schüssel Suppe zu essen, die der Pfleger des Dekans, Matthew Owen, für sie zubereitet hatte, als sie eine bekannte Stimme vom äußeren Zimmer hörte. Sie stand auf und ging durch die Küchenschwingtür. Noch mehr gekünstelter Fortschritt und Verfall hier im Salon. Und inmitten von alldem, von Staubwirbeln umgeben, stand Melissa Lee.
Die Frau hatte nichts mehr vom scharfzüngigen Goth-Mädchen des Abendkurses. Jetzt war sie vernünftig angezogen, die glatten schwarzen Haare aus dem kantigen Gesicht
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