Der Menschenspieler
Nichts außer einem mädchenhaften kleinen Kieksen, auf das hin Marsden sich bewegte und Alex vor Scham rot wurde. Sie erinnerte sich an die Szene, aber die Worte fielen ihr nicht ein. Die Einzelheiten. Sie hatte einen Blackout; ihre Erinnerung an den Text war wie weggeblasen, und ein Gefühl der Panik überkam sie. Sie wollte nicht in dem Buch nachschlagen, sodass Marsden sah, dass sie ihren Part nicht beherrschte. Dann wird man geschnitten. Und als Fallows-Forscher nicht dazuzugehören, nicht einer von ihnen zu sein ist ein Schicksal schlimmer als der Tod.
»Das Buch«, flüsterte Marsden und bot ihr seine Ausgabe an. Sie roch Whiskey in seinem Atem. Es war alles nur ein Spiel, sagte sie sich, nichts als eine kleine Abwechslung von den Examen an einem Donnerstagabend. Ein harmloser Zeitvertreib. Sie versuchte sich zu entspannen. »Deine Zeile.«
Alex nahm das Buch von ihm und schlug es auf. Fand die Szene und las: »Sie können mir zeigen, wo …«
»Nicht ablesen«, sagte Marsden. »Das ist eine der Regeln. Tut mir leid, Alex.«
Sie ließ das Buch sinken, schloss die Augen. »Sie können mir zeigen, wo sich Ann Marie befindet. Es ist so lange her, seit ich sie gesehen habe.«
Marsden sagte: »Hier entlang.«
Sie folgte ihm. Und während sie das tat, fiel ihr etwas auf: andere Leute, manche unbekannt, manche bekannt. Zehn oder zwölf Studenten von Jasper, die auf beiden Seiten der Rose Street an ihr vorbeigingen. Sie sah Lewis Prine. »Guten Abend, Ma’am«, sagte er lallend und legte einen Finger an einen unsichtbaren Hut.
Es war die Szene. Ganz exakt die Szene bis hin zu der überfüllten Straße und dem Gewimmel der Passanten.
Fallows. Sie imitieren es, spielen das Buch hier, auf diesem Campus, nach.
Aus irgendeinem Grund jagte diese Erkenntnis ihr Angst ein.
Alex folgte Marsden um die Culver Hall herum an Bäumen voller Schnee vorbei. Äste trafen sie im Gesicht, aber sie ging weiter, und bald waren sie auf einem anderen Hof. Vor ihnen lag die Turner Hall. Das war das Wohnheim von Melissa Lee. Die Studenten nannten es das Overlook, nach dem Hotel aus Shining .
Dann ging es hinein, in die Wärme. Hier waren mehr Studenten, Statisten und Ausgestoßene. Einige von ihnen tranken aus Plastikbechern, manche waren bereits betrunken und hielten sich nicht mehr an den Text. Die Szene aus Die Windung , der kurze vierseitige Akt, den Lee für dieses Spiel ausgesucht hatte, enthielt nur einen Teil davon.
Jemand rief: »Was für eine Scheiße ist eine Prozedur?« Zwei andere Studenten küssten sich, die Zungen sichtbar. Jemand spielte die Doors auf einer tragbaren Stereoanlage, »The End« durchdrang alles. Frank Marsden, immer noch in der Rolle und leicht stolpernd, führte Alex zur Treppe. Sie folgte ihm nach oben.
Die Tür zu Lees Zimmer stand einen Spalt auf, genau wie Fallows es beschrieb, und drinnen hing der schwere Geruch von Marihuana. Sanfte, akustische Musik lief, und während Alex eintrat, sah sie Lee vor einem in Alufolie eingewickelten Pappkarton: die »Spiegelszene«, eine der wichtigeren in Die Windung . Aldiss hatte sie hervorgehoben, war sie schließlich mit ihnen durchgegangen, hatte lange über ihre Motive und Einzelheiten gesprochen. Jetzt war sie hier, in diesem einfachen Wohnheimzimmer, in diesen Seiten. Alex’ Puls beschleunigte sich.
Die anderen waren auch da: Sally Mitchell, Michael Tanner und Keller. Ihr Herz machte einen Satz, als sie ihn sah, aber sie riss sich zusammen. Sie warteten auf sie, saßen an der Seite und gingen nicht durch das Zimmer, anders als in Fallows’ Originalversion, aber es musste auch so gehen. Sie waren schon zu weit drin.
»Alex«, wisperte jemand. Es war Keller. Sein ernster Gesichtsausdruck entwaffnete sie. Sie wollte ihm sagen, es nicht zu ernst zu nehmen, dass es nichts weiter als ein Spiel sei – aber das stimmte nicht, oder? Jetzt, da sie hier war, in der Szene, hatte es eine Dringlichkeit angenommen. Einen Puls. Der Junge machte eine Geste. »Deine Zeile.«
Alex kam wieder zurück in das Zimmer, in die Szene. »Ann Marie«, krächzte sie. »Wie lange ist es her?«
»Hallo, Claire«, sagte Lee mit einem perfekt gekünstelten Akzent. »Wie nett von Ihnen, dass Sie den ganzen Weg nach Iowa kommen, um mich zu sehen. Ich möchte Ihnen meinen Vater vorstellen.« Sie deutete auf Tanner, und der Junge nickte. »Und das ist unser Dienstmädchen Olivia.«
Mitchell sagte: »Wie geht es Ihnen?«
»Und das ist Mr Berman, Esquire.«
Keller streckte eine
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