Der Metzger bricht das Eis
weil er überlebt hat an diesem Abend, nicht nur, weil Sophie Widhalm den Rest dieser Nacht garantiert nicht schlafend verbringen wird, nicht nur, weil ihm selbst kaum etwas Besseres hätte passieren können, als diesem Helden Toni Schuster zu begegnen, sondern weil er das sichere Gefühl hat, durch die Reise hierher für das Leben anderer genau das Richtige getan zu haben. Eine Reise, die in der Entscheidung ihren Ursprung nahm, nicht auf einen Menschen herab-, sondern ihn ansehen zu wollen.
Behutsam streicht er seiner Danjela durchs Haar, bettet vorsichtig ihren Kopf in ihr Kissen, geht zum Fenster und blickt nachdenklich in die Nacht. Es ist nicht vorhersehbar, dieses Dasein, zu keiner Stunde, an keinem Tag. Was auch immer es für Geschichten sind, dessen vorläufiges Ende ein Leben auf der Straße bedeutet, ein Leben inmitten und doch am Rand der Gesellschaft, es sind Geschichten von Menschen, die auf ihrem Weg allesamt vielleicht einmal genau da gestanden haben, wo er selbst gerade steht, der Metzger, inmitten einer vermeintlich abgesicherten, alltäglichen, rundum glücklichen Existenz, inmitten des größten Geschenks, das ein Leben bereithalten kann: dem Dasein nicht unter, sondern mit Menschen.
Agnes Kalcher wird durchkommen, sie und Sepp Kalcher werden ihren Enkelinnen Ada und Lisl erzählen, dass sie auch für die kleine Anna richtige Großeltern sind und das leere Bett von Isabella in Zukunft wieder belegt ist; sie werden gemeinsam mit Lisl und Ada unter dem steinernen Engel ein Loch in die Erde graben, die Urne Karl Schrothes über den leeren Sarg Horst Kalchers stellen und im Gegenzug die Schachtel mit all den alten Fotos heraufholen aus ihrem Verlies; sie werden nach der Beerdigung des Kalcher-Urliopas Agnes’ rüstige Ziehmutter Traude Fischlmeier zu sich auf den Kalcherhof nehmen, weil die Mädels das leere Zimmer nicht ertragen, weil sie einfach spüren, dass die Tante Traude zu ihnen gehört, und weil Agnes’ Bruder Robert Fischlmeier als neuer Herr über das Skigebiet gar nicht mehr nachkommt mit der jeweils gründlichen Testphase aller plötzlich aufgetauchten Heiratswilligen; sie werden, ohne zweimal nachzudenken, das Angebot von Heinrich Thuswalder annehmen und sich, um Agnes Kalcher komplett freizuspielen, eine Filialleitung des Sportgeschäfts finanzieren lassen, ebenso wie die rollstuhlgerechte Umgestaltung des Kalcher-Wohnhauses, und damit Annas Mutter Maria Kaufmann ein neues Zuhause geben.
Lisl Kalcher wird in mühevoller Detailarbeit jedes Notizbuch ihres Vaters übersetzen, sie wird Dinge ans Tageslicht befördern, die sie den Menschen, auch einigen dieses Ortes, bisher nie zugetraut hätte, sie wird durch diese Dinge dem querschnittgelähmten Häftling Laurenz Thuswalder Informationen über Geschäftsbeziehungen, finanzielle Verwicklungen und stille Vereinbarungen abringen, die die Menschen dieses Ortes nie für möglich gehalten hätten. Sie wird das Leben, das ihr Vater als Obdachloser geführt hat, kennenlernen, wird anhand seiner Aufzeichnungen miterleben, wie der Verlust dessen, was einem Menschen am liebsten ist, auch alles andere mitreißen kann, wofür es sich zu leben lohnt. Sie wird den Augenblick miterleben, an dem ihr Vater, seinen Einkaufswagen durch die Straßen schiebend, plötzlich seine eigene Tochter vor Augen hatte, an dem er nicht mehr anders konnte, als in Anna und Maria Kaufmann auch sie, Ada, Isabella und ihre Mutter Marianne, zu erkennen, an dem ihn die Sehnsucht jede Nähe suchen hat lassen, bis zu jenem Zeitpunkt im Park, wo er seiner eigenen Tochter das Leben retten und sich, ohne es zu wissen, selbst endgültig aus dem Leben verabschieden sollte. Sie wird lesen, wie stark sein Wunsch war zurückzukommen, jeden Tag, und sie wird zusehends mit Bernhard Axpichl, der es in einem Haus mit sechs Frauen ja gar nicht so leicht hat, zusammenwachsen.
Sophie Widhalms Geländewagen wird die Heimreise nicht antreten können, was Sophie insofern nicht stört, da Heinrich Thuswalder versichert hat, für jeden materiellen Schaden aufkommen zu wollen. Tonis Honda Civic wird somit heillos überladen sein, und Willibald Adrian Metzger wird mit Danjela Djurkovic und Edgar, ganz ohne jemanden zu vergrämen, sein Versprechen wahr machen können und den Urlaub als Bahnreisender beenden. Waagrecht, versteht sich, denn wenn ein geschlossenes Abteil komplett leer ist, kann man schon einmal alle zur Verfügung stehenden Sitze in Anspruch nehmen, die Vorhänge zu- und die Schuhe
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