Der Metzger bricht das Eis
Nacht durchbrach. Und es war ein friedlicher Schlaf, einer, den nur zwei miteinander zustande bringen, die zwar jeder für sich ein einzelner Mensch, aber trotzdem zusammen eins sind: der Urliopa an die Seitenwand gelehnt, Adas Kopf auf seinem Schoß. Wie auch immer die beiden diese Anordnung trotz Fesselung hinbekommen haben, ist dem hinter Robert Fischlmeier stehenden Willibald allerdings ein Rätsel.
»Morgen ist meine Hochzeit, ich muss doch irgendwo die Ringe haben!«, ist die erste Reaktion des alten Kalcher, nachdem er im Anschluss an Ada von seinen Fesseln befreit wurde.
»Das hat schon was miteinander zu tun, Hochzeit und Fessel, da hast du recht, aber weißt du, deine Frau, die Resi, ist bald seit zwanzig Jahren beim …«, meint es Robert Fischlmeier in sehr kindlich gehaltenem, verniedlichendem Tonfall wahrscheinlich gut, muss aber angesichts des überraschend heftigen Schlages in seine Magengrube würgend unterbrechen. Grimmig blickt Ada, die Fäuste geballt, ihrem Onkel entgegen.
»Ich hab die Ringe auf dem Nachtkästchen liegen gsehen, Urliopi, wenn wir zu Hause sind, schauen wir gleich, okay!«, erklärt sie, nimmt ihren Urgroßvater bei der Hand und steigt mit ihm aus der Gondel, als hätten sie einfach nur zur Entspannung ein wenig drinnen gesessen.
»Schau dir das an, Urli, da oben die Sterne, so viele sieht man heute!«
Der alte Kalcher bleibt stehen, schaut lange in den Himmel, umarmt die kleine Ada und meint schließlich: »Ich glaub, ich weiß schon, wo die Ringe sind – und die Resi!«
Ganz groß wirkt sie plötzlich auf den Willibald, die kleine Ada, wie sie da neben ihrem Urgroßvater steht. Und nichts von dieser vielleicht gut gemeinten Würdigung eines alten Menschen, die dennoch einer Herabwürdigung gleichkommt, liegt in ihrem Verhalten. Kein Mensch, der ein ganzes Leben auf seinen Schultern trägt, verdient es, wie geistig und körperlich altersschwach er auch immer sein mag, eines Tages angesprochen zu werden, als rede man mit einem Säugling, Wellensittich oder Hund, so sieht das der Willibald, und so sieht das ganz offensichtlich auch die siebenjährige Ada Kalcher.
»Bringst du mich jetzt heim?«, fragt sie ihren Urgroßvater, dann nimmt sie ihn behutsam bei der Hand und führt ihn zum Wagen.
Robert Fischlmeier wird den Rest der Nacht in der Küche des Hauses seiner wenn auch nicht leiblichen, aber dennoch auf immer und ewig einzigen Schwester verbringen, über ihm die schlafenden Kinder und ein wacher Greis.
Er wird unter Sonnenblumenbildern sitzen und diese so erschreckenden Wahrheiten nicht glauben können, wird ein wenig die innigen Umarmungen dieses Prachtweibes Danjela Djurkovic mit Willibald Adrian Metzger verdauen müssen und wird sich schließlich die beiden Sätze seines Vaters Heinrich Thuswalder in Erinnerung rufen. »Keine Sorge, wer das alles hier übernimmt, steht längst fest. Auch wenn Robert Fischlmeier offiziell nur eine Mutter hat, hat er trotzdem einen Vater!«
Zwei Sätze, von denen ihm der Inhalt des ersten völlig neu ist.
Heißt das, der Ort wird nun endlich erfahren, aus wessen Lenden er stammt, heißt das, aus der Thuswalder- wird eines Tages eine Fischlmeier-Citypassage, heißt das, er kann, wenn er Lust hat, das Wetter ändern und all denen, die den Kalchers, also seiner Familie, grundlos das Leben zur Hölle gemacht haben, nur um sich von der Herrschaft des Wintersports das Leben diktieren zu lassen, auch moralisch eine Lektion erteilen?
Kurz vor drei zeigt die Küchenuhr, und Robert Fischlmeier lächelt.
»Ich bin streichfähig!«, erklärt der Metzger.
»Auch streichelfähig?«, will Danjela Djurkovic wissen und kuschelt sich in den wie für sie geschaffenen Bogen zwischen Willibalds zur Seite gelegtem Oberarm und seinem Oberkörper.
Liebevoll legt sich die kräftige Hand des Restaurators auf den Kopf seiner Danjela und beginnt mit den so einzigartig sanften, sich in ihr Haar grabenden Bewegungen, deren Wirkungsweise problemlos mit der eines Schlafpulvers mithalten kann. Nur zwei Minuten später hört er ihren gleichmäßigen Atem, der Metzger, zehn Minuten später spürt er die ersten Anzeichen einer gewissen Gefühllosigkeit in seinen Fingern, ist ja nicht gerade leicht, dieser so einzigartige kroatische Schädel, und trotz der Bitternis der Ereignisse erfüllt ihn jetzt ein stilles Glück. Kein größeres Geschenk hätte ihm zuteilwerden können als dieses Leben zu zweit. »Alles ist gut!«, geht es ihm durch den Kopf. Nicht nur,
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