Der Metzger bricht das Eis
Meine Hochachtung!«, entgegnet Sophie etwas pampig.
Das junge Mädchen nickt ihr trotzdem freundlich zu, nimmt den alten Mann liebevoll an die Hand und zieht ihn zur Seite. Rührend ist das Bild. Danjela Djurkovic tritt vor und übernimmt das Kommando. Wenn sie den Altersunterschied der beiden richtig einschätzt, dann stellt sich hier eine schüchterne Urenkelin schützend vor ihren Urgroßvater. Und wenn sie die Situation richtig einschätzt, dann dürfte das Alter diesen Urgroßvater ähnlich schonungslos gebeutelt haben wie ihren eigenen am Ende schwer dementen Opa. Nichts mehr war für ihn von dieser Welt, auch nicht die eigenen Angehörigen. So reagiert sie also entsprechend:
»Haben wir Stadtmenschen keine Ahnung von Gemüse. Sind wirklich schöne Paradeiser. Und bitte um Vergebung, ist alles schreckliche Missgeschick, aber haben wir uns nix verfahren absichtlich über Skipiste.«
»Verfahren stimmt. Nicht absichtlich über die Skipiste fahren stimmt nicht. Heilfroh bin ich über den festen Boden unter den Füßen!«, meldet sich nun auch der Metzger zu Wort und erntet ein herzerwärmendes, kindliches Lächeln. Hellwach ist der Blick des Mädchens, und all das, was sie sich aus Schüchternheit offenbar nicht zu sagen traut, erzählt sie mit ihren dunklen Augen.
»Stadtmenschen! Arme Leut, wirklich arme Leut!«, murmelt der betagte Herr im Hintergrund in sich hinein.
Mittlerweile ist eine junge Dame im Dirndl auf den Parkplatz herausgetreten, begrüßt die neuen Gäste, schnappt sich den ersten Koffer, und auch Danjela beginnt, das Allernotwendigste auszupacken. Ist ja auch nicht zu überhören, das Signal aus der Katzenkiste.
Mit großen, begeisterten Augen stürmt das Mädchen auf Edgar zu, eine Kinderhand streichelt, eine Hundezunge schleckt, ein Hundeschwanz wedelt, Liebe auf den ersten Blick. Mit »Sehr erfreut, Djurkovic!« streckt Danjela den beiden die Hand entgegen und stellt ihre Begleiter vor. Zwar wird die Hand geschüttelt, den mündlichen Teil übernimmt aber die Rezeptionistin. »Darf ich vorstellen!«, erklärt sie feierlich und deutet auf den alten Mann und das Mädchen: »Johann und Lisl Kalcher.«
»Ah, der Chef und die Urenkelin höchstpersönlich!«, lässt der Metzger demutsvoll anklingen.
»Seniorchef«, kommt es zurück.
»Also Chef!«, erklärt Danjela Djurkovic, und jetzt lächelt er zum ersten Mal, der Kalcher-Urliopa.
Das Innere des direkt an der Piste gelegenen Gasthofs Kalcherwirt entpuppt sich als Mischung aus gepflegten Bauern- und Buchenmöbeln, dunkelroten Teppichen, ebenso farbigen Vorhängen und allerlei zwecks Dekoration an den Wänden hängenden alpinen Inventars: alte Skier, Skistöcke, Rucksäcke, Hüte und jede Menge Schwarz-Weiß-Fotos.
Es ist jetzt kurz vor 13 Uhr. Sophie Widhalm verabschiedet sich in Richtung Skivergnügen, und auch der Metzger und die Djurkovic widmen sich nach Bezug des geräumigen, sehr gemütlichen Zimmers mit der Nummer 202 ihren sportlichen Ambitionen: Eine kleine Hundrunde wird absolviert, danach ruft die Speisekarte. So sitzen sie also gemütlich neben einem Fenster in der Gaststube und rücken mit Blick auf die Wintersportler ihren leeren Mägen in kulinarischer Eintracht zu Leibe: zwei Gulaschsuppen, zwei kleine Bier, zwei Kaffee, zwei Schwarzwälder-Kirschtorten.
Lange dauert es allerdings nicht, dann driften zumindest inhaltlich die Interessen ein wenig auseinander. »Irgendwie sehen die Wintersportler heutzutage alle aus wie Rennfahrer. Täusch ich mich, oder ist es früher ein bisschen gemütlicher zugegangen?«, merkt Willibald Adrian Metzger an, während er mit dem Gabelrücken unter Anwendung einer ausgefeilten Drücktechnik penibel die letzten Krümel seiner Schwarzwälder-Kirschtorte zusammensammelt.
»Willst du nicht schnell fragen bei Rezeption nach Agnes Kalcher? Will ich endlich wissen, wie sieht sie aus!«, ist die Antwort auf seine Frage.
»Jeder hat’s eilig. Da bleibt keiner zwischendurch stehen, siehst du das, die fahren fast alle Schuss. Ich hab noch keinen Einzigen wedeln gesehen.«
Jetzt ist für Danjela Djurkovic das entscheidende Stichwort gefallen.
»Wedelt heutzutage vielleicht Putzfrau mit Staubfetzen oder Hund mit Schwanz, aber sicher nix mehr Skifahrer. Heißt jetzt Kurzschwingen! Apropos: Schwingst du jetzt kurz deine Hintern zu Rezeption, bin ich neugierig.«
»Ich auch: Also, isst du deine Schwarzwälder-Kirschtorte noch auf? Und was den Rest betrifft, schauen wir uns zuerst in aller Ruhe
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