Der Metzger bricht das Eis
Denn einige der anwesenden Gäste schicken dem davongehenden Pärchen nicht minder amüsierte, allerdings deutlich weniger liebevolle Blicke nach. Jene beiden jungen Männer, bei denen Jo Neuhold vorhin kurz Platz genommen hatte, sitzen belustigt vor ihren Käsespätzle, selbstverständlich nicht mit Milch, sondern mit Bier, und da braucht Sophie jetzt gar nicht viel zu verstehen, ihr reichen allein schon die höhnisch verzogenen Fratzen der Beteiligten, um zu wissen, worüber sie sich ergötzen.
»Na, die haben auch ihren Karl!«, stellt sie verärgert fest, und auch wenn dem Metzger jetzt völlig klar ist, dass seine Halbschwester mit »Karl« umgangssprachlich »Spaß« gemeint hat, drängt sich seinem inneren Auge zwangsweise ein deutlich weniger unterhaltsames Bild auf.
Und weil sein Hirn in letzter Zeit sowieso Höchstarbeit leistet und noch nebenbei darauf gedrillt ist, zur Abendstunde Buchstaben, Zeichen und Zahlen hin und her zu schieben, und weil er außerdem grad eines der beiden möglichen in der Riege der 102 Buchstabensteinchen des Scrabblespiels vorhandenen Ks sowie eines der sechs möglichen As vor sich liegen hat, schiebt er die Teller, Gläser und das auf dem Tisch liegende Telefon Toni Schusters etwas zur Seite, schnappt sich den Buchstabenbeutel, leert ihn unter dem erstaunten Blick seiner Halbschwester aus und sucht sich das R und das L.
KARL steht nun also vor ihm, zwar nicht leibhaftig, an eine Auferstehung kommt alles Weitere dann allerdings doch beinah heran, was nicht allein daran liegt, dass sich einige Tische weiter die beiden Burschen erheben und die Toilette ansteuern.
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Nein, er hat kein Problem in puncto Größe, der Toni Schuster, schon gar nicht auf der Toilette. Alles, was ihm diesbezüglich zum Thema Scham einfällt, sind die sich schlagartig von einem anfänglich süffisanten Lächeln in eine beschämte Ungläubigkeit verziehenden Gesichter der neben ihm stehenden groß gewachsenen Kollegen. Dazu muss er nur die Hose aufknöpfen und sich dem eigentlichen Zweck seines Pissoirbesuches widmen.
Er wird sie eben nicht los, seine tierische Natur, der Mann. Größere Hörner, prächtigere Federn, mächtigere Hauer, das Grundkapital des Überlebens ist die Potenz, nicht die moralische, nicht die musische, nur die maskuline, sprich Eier. Und wer keine Eier hat, den rettet einzig eine dicke Brieftasche, so die Theorie. Natürlich ist die Dimensionierung männlichen in der Hose verborgenen Besitztums erstens fortpflanzungstechnisch völlig unerheblich und zweitens noch lange kein Synonym für Fruchtbarkeit, ein paar Jährchen eine aus Demonstrationsgründen zu enge Jeans, und so ein Mannsbild versteht unter Nachwuchs nur noch die trotz Rasur hoffnungslos sprießende Körperbehaarung. Nur interessiert dieses Wissen am Urinal wirklich keinen. Hier geht es rein um den animalischen Urinstinkt. Und das liegt im wahrsten Sinn des Wortes schlichtweg auf der Hand: Da nutzt das größte Leerzeichen nichts, so wie der Urin stinkt, stinkt auch der Urinstinkt zum Himmel.
Hier auf dem Häusel ist er also wie auf der Piste und auf der Straße zumeist unangefochten die Nummer eins, der Toni Schuster. Und weil man allein schlecht eine Nummer eins sein kann, ist er anfangs nicht unzufrieden über die beiden eintretenden Besucher. Lange währt das Glück allerdings nicht, denn wie sich die doch kräftig gebauten Recken unmittelbar neben ihn vor der Rinne aufbauen, ihn sozusagen in die Zange nehmen, verunsichert ihn nun doch ein wenig. Auch ist er es zwar gewöhnt, vorwiegend von Männern mit dem Thema Größe konfrontiert zu werden, der Toni Schuster, auf die Körpermitte bezogen stellt Derartiges allerdings eine Premiere dar:
»Na bum! Skistecken brauchst du keinen!«, erfolgt also von links außen die für diese Umstände höchst seltene Kontaktaufnahme, gefolgt von einem: »Und was hat der Arm? Beim Snowboarden einen Baum touchiert?«
»Nein, beim Skifahren einen Idioten planiert!«, erwidert Toni Schuster möglichst gelassen.
»Ja, Planiertwerden, das geht schnell, vor allem, wenn man wo im Weg herumsteht!«, ist nun von rechts außen die seltsame Antwort, gefolgt von: »Und, bist wenigstens gut einquartiert? Sporthotel Kamptner? Schenningerhof? Gasthof Kalcherwirt? Scheibelhofer-Alm?«
»Was würdet ihr mir denn empfehlen, als Einheimische?«
»Am Schönsten ist es immer daheim, was meinst?«
Blickkontakt herzustellen wäre jetzt völlig unpassend, weiß Toni Schuster.
Die dunklen Fliesen
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