Der Meuchelmord
doch albern. Hier sind alle Leute reich.«
»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete Elizabeth. »Was du bisher gesehen hast, ist die Schokoladenseite dieses Landes. Regazzi weiß schon, wovon er spricht. Er kommt selbst aus den Slums und hat sein Leben lang für die Armen gekämpft. Ich halte nicht viel von seiner Religion, aber er ist ein großartiger Mensch.«
»Jede Religion ist Lüge«, murmelte Keller. Er dachte an die barmherzige Schwester, die ihm zum Abschied aus dem Waisenhaus einen Rosenkranz geschenkt und dann mit feuchten Augen am Tor gestanden hatte. »Die Katholiken haben nicht mehr und nicht weniger Unrecht als alle anderen.«
Da läutete das Telefon. »Geh dran«, sagte Keller, »es ist vielleicht für mich.«
»Das fürchte ich ja gerade.« Elizabeth stand zögernd auf. »Um diese Stunde ruft man nicht andere Leute an. Laß es sein, Bruno, die können morgen wieder anrufen.«
»Geh dran«, sagte er, »sonst tu ich's.«
So kam es, daß King doch noch ihre Stimme hörte.
Sie wandte Keller den Rücken zu und verbarg ihr Gesicht. »Hallo«, rief sie. »Wie war die Reise?«
»Gut«, antwortete King und gab sich alle Mühe, seine Angst und Besorgnis für sich zu behalten. »Und bei Ihnen? Wie geht's Ihrem Freund?«
»Der ist gestrandet«, sagte Elizabeth. Es hatte keinen Sinn mehr, Keller etwas vorzumachen. Sie drehte sich zu ihm um und nickte ihm zu. Er stand auf und trat neben sie. »Er ist nicht abgeholt worden. Wir haben eine ganze Weile gewartet, und dann hielt ich es für das beste, ihn einfach mitzunehmen.« Das sollte ganz beiläufig klingen. »Nein, nein, ganz und gar nicht«, sagte sie. »Ich habe ihn kaum zu sehen bekommen. Er schläft die meiste Zeit.« Plötzlich blitzte es in Kellers Augen auf. Er legte ihr beide Hände um die Taille und drückte zu.
»Mit dir«, flüsterte er. »Gib mir den Apparat.«
»Soll ich ihn rufen?« fragte Elizabeth.
Kings Stimme klang plötzlich sehr beschwingt. Er war so erleichtert, daß er sich nicht mehr verstellen konnte. »Nein, danke, meine Liebe. Es tut mir schrecklich leid, daß Sie so viel Schwierigkeiten hatten. Er hat Sie auch sicher nicht belästigt? Sie hätten ihn einfach in einem Hotel unterbringen sollen. Elizabeth, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das bedaure. Wissen Sie was, ich sorge dafür, daß er gleich morgen früh abgeholt wird. Darf ich Sie dann anschließend zum Essen einladen? Ich möchte versuchen, das wiedergutzumachen.«
»Das geht leider nicht«, antwortete sie. »Ich bin beim Finanzamt angemeldet. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.«
»Von jetzt an können Sie ruhig alles mir überlassen«, sagte King. »Natürlich war es das beste, daß Sie ihn bei sich behalten haben. Wenn wir uns sehen, werde ich Ihnen alles erklären. Morgen lasse ich ihn abholen.«
Sie legte den Hörer auf. »Das war der Mann, mit dem ich nach Beirut geflogen bin«, erklärte sie. »Eddi King. Er sorgt dafür, daß du morgen abgeholt wirst. Bruno, ich möchte nicht, daß du weggehst.«
»Ich muß aber, dafür werde ich bezahlt.«
»Bezahlt – wofür? Wir lieben uns doch, kannst du mir wirklich nicht vertrauen?«
»Ich werde dafür bezahlt, daß ich meine Befehle ausführe«, sagte Keller. »Wenn dein Freund es so will, werde ich morgen ausziehen. Aber was ich heute abend mache, geht ihn nichts an. Komm her zu mir, ich werde dir etwas zeigen. Das Morgen ist ein großes Fragezeichen. Den heutigen Abend haben wir noch sicher. Also, vergeuden wir ihn nicht.«
Francis Learys Büro lag im siebzehnten Stock eines gewaltigen Bürogebäudes am unteren Broadway. Learys Leute hatten zwei Etagen gemietet, und zwar unter der Firma ›Trans-Oceanic-Shipping Company‹, die ordnungsgemäß registriert war und auch an der Atlantikküste normale Geschäfte abwickelte. Diese Firma war der Deckmantel für Learys New Yorker Büro.
Leary hatte seinen Schreibtisch ans Fenster gestellt und konnte so ständig das großartige Panorama dieser Stadt bewundern, die ewig wechselnde Szenerie regte sein Denken an. Was die ästhetische Seite betraf, so liebte er an diesem Anblick die Mischung aus Schönheit und Häßlichkeit. Den trägen Strom vieler Autos, die quirlenden Menschenmassen auf der Straße unten, die harte Silhouette himmelstrebender Wolkenkratzer, dazwischen grüne Flächen und tausend Lichter, wenn der Abend hereinbrach. Das war der Stadtteil, in dem Leary geboren war, in dem seine Großeltern nach der Flucht aus dem verhungernden Irland
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