Der Meuchelmord
angekommen waren. Hier hatte er eine Familie und ein neues Leben gefunden. Leary gehörte zu Amerika, aber ganz besonders zu dieser schönen, gewalttätigen, brutalen Stadt. Sie hatte ihn herausgehoben aus den tristen Gettos an der West Side, wo sich die irischen Einwanderer drängten. Leary hatte sich emporgekämpft in eine Sphäre von Reichtum und Luxus und sich selbst eine Scheibe davon abgeschnitten. Bei Kriegsausbruch betrieb er eine gutgehende Werbeagentur. Er war von der Infanterie zum Geheimdienst versetzt worden – ein Wendepunkt in seinem Leben und der Beginn eines Weges, der ihn schließlich in den siebzehnten Stock dieses Hochhauses geführt hatte.
Er hatte eine Stunde damit verbracht, alle verfügbaren Informationen über Miß Elizabeth Cameron nachzulesen. Es war ganz ähnlich wie bei Eddi King: Das Material war spärlich. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, stammte aus der Geldaristokratie und war durch einen Flugzeugabsturz, bei dem vierundachtzig Menschen ums Leben kamen, zur Vollwaise geworden. Diesen Punkt hatte er dick unterstrichen. Es war überhaupt eine Angewohnheit von ihm, selbst die geheimsten Papiere und Dokumente mit seinem Bleistift zu verunzieren. Learys Akten waren wegen ihrer Unordnung berühmt. Deswegen hatte ihm sogar der Präsident eine Aktennotiz zugeschickt. Sie hing jetzt eingerahmt in Learys privatem Arbeitszimmer zu Hause. Elizabeth Cameron hatte mit Peter Matthews zusammen gelebt, aber nichts deutete auf eine neue Verbindung mit einem anderen Mann hin, und aus Matthews' Bericht vom Morgen ging hervor, daß sie auch keine privaten Beziehungen zu Eddi King unterhielt. Matthews hatte ihre Anhänglichkeit gegenüber der Mutter hervorgehoben.
Leary sah auf die Uhr. 11 Uhr 45. Sie mußte jeden Augenblick kommen. Er griff nach einem Holzkästchen von ungefähr zwanzig Zentimeter Länge und stellte es genau vor sich auf den Tisch. Er sah aus wie eine normale Zigarrenkiste. Dann kündigte ein Summton den Besuch von Matthews und Miß Cameron an.
Leary gab durch einen Knopfdruck Anweisung, die beiden einzulassen. Als sie sein Büro betrat, kam er um den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen, ein korrekter, fast eine Spur zu eleganter Herr mit einem schmalen irischen Gesicht und hellen blauen Augen.
»Guten Morgen, Pete. Miß Cameron? Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Er hatte sich das Mädchen nicht so hübsch vorgestellt. Bei Fotos geht manchmal der ganz persönliche Ausdruck verloren. In den Akten wirkte sie wie irgendeine wohlgekleidete Dame der gehobenen Gesellschaft, die für den Fotografen posiert. Aber der Ausdruck war das wichtigste: Auch ohne Make-up und ohne den honiggelben Nerz hätte sie ihn tief beeindruckt, allein durch ihren Blick. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Was hatte ein solches Mädchen bei einem Schürzenjäger wie Matthews zu suchen? Selbst wenn das inzwischen vier Jahre her war.
»Rauchen Sie?«
»Danke.« Elizabeth nahm eine Zigarette und ließ sich Feuer geben. Er sah, daß ihre Hand ganz ruhig war.
»Pete, ich weiß, daß Sie viel Arbeit haben. Miß Cameron und ich werden uns jetzt ein wenig unterhalten. Wenn wir fertig sind, lasse ich Ihnen Bescheid sagen.«
»Okay, Sir. Auf Wiedersehen, Liz.«
Elizabeth sah ihm nach. Bisher hatte er noch nie zu einem anderen Mann ›Sir‹ gesagt, nicht einmal zu ihrem Onkel. Er hatte sich in diesen vier Jahren doch sehr verändert. Das lausbübische Grinsen war mehr die lachende Seite des zweigesichtigen römischen Gottes. Matthews an seinem Arbeitsplatz, ein ›Sir‹ auf den Lippen – das war die Seite des Januskopfes, die sie bei ihm nie vermutet hätte.
»Sie haben meine Bitte sicher seltsam gefunden, Miß Cameron.« Leary beugte sich vor und lächelte sie mit seinem ganzen irischen Charme an. Sie sollte sich absolut sicher fühlen, bevor er ihr das zeigte, was in dem hölzernen Kästchen lag.
»Wieviel wissen Sie schon von Pete?«
»Nicht viel«, antwortete sie. »Er hat nur erwähnt, daß es um den Nachlaß meines Vaters geht und daß Sie irgendwelche steuerlichen Fragen mit mir besprechen wollten. Aber ich muß Sie warnen: Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen. Meine Rechtsanwälte erledigen alles für mich.«
»Ich verstehe.« Leary lehnte sich zurück und kippte seinen Stuhl gegen die Wand. Also Einkommensteuer. Typisch, daß Matthews so etwas eingefallen war. In ihren Augen eine harmlose Sache. »Miß Cameron, ich weiß,
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