Der Meuchelmord
ein einziges Mal hatte sie erlebt, daß der Alkohol seine Zunge löste oder irgendeine Wirkung bei ihm zeigte. Sie hatte ihm gesagt, er hätte sicher ein hohles Bein, in dem der ganze Whisky verschwinde, und er hatte gelacht.
Sie setzte sich mit dem Glas und dem Block an den Tisch. Ein hoffnungsloser Fall: die Eindrücke waren nicht zu entziffern. Der Kognak beruhigte sie. Plötzlich fiel Elizabeth etwas ein. Weiß auf weiß ist nicht zu sehen. Aber schon als Kind kannte sie den alten Trick der Geheimschrift, die man wieder lesbar macht, indem man schräg einen Bleistift über die Seite reibt, wodurch die Eindrücke sichtbar werden. Sie nahm einen Bleistift und begann sehr vorsichtig die Seite von links nach rechts zu schattieren. Ungefähr in der Mitte tauchten die ersten beiden Worte auf: Morries Hotel. Darunter stand in unbeholfenen Versalien: NEUNUNDDREISSIGSTE STRASSE WEST. Er hatte die Ziffer ausgeschrieben. Also das Morries Hotel in der 39. West. Dort wurde Keller hinbefohlen. Sie riß die Seite ab und schob sie in ihre Handtasche. Ihr erster Impuls war, gleich zu ihm zu gehen. Aber das war falsch, und sie nahm sich zusammen. Sie mußte ihn finden, ihm erzählen, was geschehen war, sich in seinen Armen ausweinen und von ihm trösten lassen. Aber das konnte sie nicht, wenn er für King arbeitete. Sie konnte nichts erreichen, nicht einmal den Preis der anderen Leute überbieten, solange sie nicht ganz genau wußte, wofür man ihn bezahlte. Und das fand sie am ehesten heraus, wenn sie den Dingen auf den Grund ging.
Sie trank aus, ging ins Schlafzimmer und packte.
Draußen auf der Straße richtete sich der erste von Peter Matthews Beobachtern in seinem Wagen auf die Nachtwache ein. Gleich darauf wurde er von Matthews angerufen. Elizabeth Cameron hatte sich kaum zehn Minuten in ihrer Wohnung aufgehalten, da bezog er seinen Posten und beobachtete den Hauseingang. Über Kurzwelle war ihm eine genaue Beschreibung durchgegeben worden. Wenn jemand mithörte, klang es wie die Anweisung an ein Funktaxi: »Block vier, River Way, 59. Ost, eine Blondine, einssiebzig groß, Glück gehabt, alter Junge …« Kurz danach kam ebenfalls über Funk die Beschreibung und die Nummer ihres Autos durch. Er hatte kaum zwei Stunden Wache geschoben, da wurde das rote Cabrio vor den Eingang gefahren. Um 2 Uhr 10 trat sie aus dem Haus, einen kleinen Koffer in der Hand, und fuhr weg. Drei Meilen außerhalb der Stadt bog sie auf die Schnellstraße ein. Matthews' Beobachter meldete über Funk, daß sie in Richtung Freemont führe, wo Huntley Cameron seine Festung erbaut hatte.
4
Huntley Cameron hatte Schloß Freemont in den ersten Jahren der Depression errichtet. Er war niemals ein beliebter Mann. Er hatte einen unangenehmen Scheidungsprozeß hinter sich und stand in dem Ruf, ein in jeder Hinsicht rücksichtsloser, autokratischer Mensch zu sein. Die Grundsteinlegung in Freemont löste einen Riesenkrach aus. In einer Zeit, da Amerikas Wirtschaft am Boden lag, die Zahl der Arbeitslosen die Zehnmillionengrenze überschritt und viele weitere Millionen am Rande der Armut dahinvegetierten, mußte sich einer der reichsten Männer des Landes ein Monument der eigenen Extravaganz errichten! Ein Aufschrei ging durch die Öffentlichkeit.
Nicht einmal Huntleys politische Freunde hielten Freemont für entschuldbar; seine Feinde feierten wahre Orgien selbstgerechter Verdammung; Anschläge wurden verübt; hundert Polizisten mußten die Baustelle schützen. Huntley Cameron wurde beschimpft, gebrandmarkt, angeprangert. Freemont war kein Haus, nicht einmal ein Landsitz, wie er in Neuengland üblich war. Es handelte sich um ein deutsches Schloß, das Huntley auf seiner dritten Hochzeitsreise in Westfalen erstanden hatte; nun wurde es Stein für Stein herübertransportiert und zwanzig Meilen von Boston entfernt mitten in der schönsten Landschaft wieder zusammengesetzt. Tausende Tonnen Erde mußten bewegt werden, um einen kleinen Berg zu errichten, von dessen Gipfel aus das Schloß die Landschaft überblickte. Dreitausend Bäume wurden rings um das Grundstück gepflanzt, um einen Sichtschutz zu gewähren, und die Neugierigen wurden durch einen vier Meter hohen Elektrozaun in Schach gehalten. Einen Teil der Schuld an Freemont gab man Huntleys dritter Frau. Man bildete sie in der Presse mit Huntleys Hochzeitsgeschenk ab, einem phantastischen Brillantschmuck, man warf ihr vor, sie hätte eine goldene Badewanne bestellt, und als sie einmal zusammen mit Huntley
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